Der Sommer des Jahres 1816 ist in die Geschichte eingegangen - nicht in die Geschichte der Staaten und Nationen, sondern in die des schlechten Wetters und der phantastischen Literatur. Gräßliche Regenfälle und schauerliche Gewitter entstellten die schöne Zeit dieses Jahres bis zur Unkenntlichkeit. Aus einer nie dagewesenen Kälte tauchten zwei Gespenster auf, die jeder von uns kennt, und so spannungsgeladen wie die Geschichten, in denen diese Schreckgestalten bis heute fortleben, ist die Geschichte ihrer Entstehung unter den klimatischen Ausnahmebedingungen von 1816.
Dieses Jahr erlebte den kältesten Sommer seit Beginn regelmäßiger Temperaturmessungen im 17. Jahrhundert, ein Negativrekord, der bis heute nicht unterboten wurde. Westeuropa verzeichnete weit über dem Durchschnitt liegende Niederschläge und weit darunter liegende Temperaturen. Die Weinlese war in diesem Jahr so spät wie nie zuvor oder danach - in Mittelfrankreich Ende Oktober, in den Alpen erst im November.
Über die Ursachen dafür, daß der Sommer 1816 nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Teilen der Welt ausfiel, haben die Klimahistoriker viel spekuliert. Eine ihrer Hypothesen führt die extremen Witterungsverhältnisse auf den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 zurück, bei dem etliche Kubikkilometer feiner Staub in große Höhen geschleudert wurden. Dieser Staub verteilte sich, wie man annimmt, im Laufe der Monate in der gesamten Erdatmosphäre und verminderte, bevor er langsam niedersank, die Sonneneinstrahlung so stark, daß es zu einer Abkühlung und zu einer Veränderung der globalen Windzirkulation kam.
Aber welche Ursachen das schlechte Wetter auch gehabt haben mag - die Auswirkungen waren jedenfalls verheerend. Infolge des kalten Sommers kam es 1816 und 1817 in vielen Gegenden Europas zu der bis heute letzten natürlich bedingten Hungersnot. Auch begünstigte die Nässe damals die Ausbreitung von Seuchen, namentlich der Cholera und des Typhus.
Der kalte Sommer des Jahres 1816 hatte aber auch Folgen für die Kultur- und Literaturgeschichte. Sie fielen für die Zeitgenossen natürlich nicht ins Gewicht und waren überhaupt kaum wahrnehmbar. Aber sie erwiesen sich als langlebig und dauern bis heute fort.
Den beiden Gespenstern, die im "Jahr ohne Sommer" zum erstenmal die Bühne der Literatur betraten, stand nämlich eine große Zukunft bevor. Später haben sie auch die Kinoleinwand und den Fernsehbildschirm erobert und gehören inzwischen längst zum Stammpersonal unserer Schreckens- und Schauerphantasien: Frankenstein mit seinem künstlichen Menschen, und der blutsaugende Vampir. Beide waren sie Ausgeburten des schlechten Wetters von 1816 - Erfindungen, die aus einem Wettbewerb im Geistergeschichtenschreiben hervorgingen, den damals einer der berühmtesten Dichter Europas im kleinen Kreis der Freunde und Freundinnen in einem von Gewittern umtobten Ferienhaus am Genfer See veranstaltete.
Hauptmieter der Villa Diodati und Gastgeber der Runde war George Gordon Lord Byron, 28 Jahre alt, Bestsellerautor, 1812 mit den ersten beiden Gesängen seines Versepos Childe Harolds Pilgerfahrt beinah über Nacht zu literarischem Ruhm und gesellschaftlicher Prominenz gelangt, seit anderthalb Jahren verheiratet mit Annabella Milbanke, seit sieben Monaten Vater einer Tochter mit Namen Ada, seit anderthalb Monaten von Frau und Tochter getrennt. Unmittelbar nach dieser Trennung hatte er England verlassen. Der Löwe der Gesellschaft von 1812 war zum skandalumwitterten Gespött der Leute geworden. Man munkelte von Liebschaften und von inzestuösen Beziehungen zu seiner Halbschwester. Byron entzog sich einer Atmosphäre, in der ihm die Luft zum Atmen und zum Leben knapp wurde.
Über Ostende reiste er nach Köln, von dort rheinaufwärts über Basel und Lausanne nach Genf. Am 25. Mai, einen Monat nach seiner Abreise von London, quartierte er sich dort im Hôtel d'Angleterre ein. Am 10. Juni zog er noch einmal um. Seinem Freund Hobhouse in England schrieb er:
Ich habe eine sehr hübsche kleine Villa in einem Weinberg gemietet, mit den Alpen dahinter, und Jura und See davor - sie heißt Diodati. (1)
Mit Byron reiste auch John William Polidori, in England geborener Sohn eines ausgewanderten italienischen Gelehrten und einer englischen Mutter, zwanzig Jahre alt, 1815 in Edinburgh mit einer Dissertation über Alpträume zum Doktor der Medizin promoviert. Byron hatte ihn kurz vor der Abreise als Arzt engagiert. Aber der ehrgeizige Polidori versprach sich von der Nähe zu dem prominenten Dichter mehr als eine Förderung seiner medizinischen Karriere. Polidori hegte selbst literarische Ambitionen, er hatte das Manuskript eines Dramas, an dem er schrieb, in der Reisetasche, und Byrons Verleger, John Murray, hatte ihm fünfhundert Pfund in Aussicht gestellt, für das Tagebuch seiner Reise mit Byron. Polidori führte sein Reisejournal zunächst eifrig, später mit abnehmendem Fleiß - und veröffentlicht wurde es erst 95 Jahre später, als Quellenschrift für all jene, die Genaueres über die ersten Monate von Byrons Exil und über seinen Umgang mit dem englischen Dichter Shelley am Genfer See wissen wollen.
Percy Bysshe Shelley, dreiundzwanzig Jahre alt, philosophisch inspirierter Poet, Verfasser einer atheistischen Flugschrift, in seinem Denken wie in seinem verwickelten Privatleben ein Aufrührer gegen die Konventionen der Gesellschaft, war zur gleichen Zeit wie Byron, aber auf einer anderen Route - durch Frankreich - an den Genfer See gereist. Die beiden Dichter freundeten sich rasch an. Gemeinsam unternahmen sie viele Bootspartien, und zwischen Byrons Villa und dem nur wenige Minuten entfernten Haus, das Shelley gemietet hatte, entwickelte sich ein reger Besuchsverkehr.
Shelley war nicht allein in die Schweiz gekommen. Zwei junge Frauen begleiteten ihn. Die eine war Mary Godwin, achtzehn Jahre alt, Tochter des Schriftstellers und Philosophen William Godwin und seiner Frau Mary Godwin, geborene Wollstonecraft, der ersten Frauenrechtlerin Großbritanniens. Seit zwei Jahren war sie die Geliebte des in London unglücklich verheirateten Shelley. Sie heiratete Shelley Ende 1816, nach dem Selbstmord von dessen Frau. Wir werden sie hier aber schon mit ihrem späteren Namen, Mary Shelley, nennen.
Ein fast ununterbrochener Regen, so schrieb sie Anfang Juni an eine Freundin in England, fesselt uns ans Haus. Die Gewitter, die uns heimsuchen, sind so gewaltig und schrecklich, wie ich nie welche erlebt habe. [...] Eines Abends genossen wir ein schöneres Unwetter, als ich es je zu Gesicht bekommen habe. Einen Augenblick lang war der ganze See erleuchtet - die Kiefern auf dem Jura sichtbar und die ganze Landschaft in Licht getaucht, gefolgt von schwärzester Dunkelheit, und inmitten der Finsternis ging mit furchtbarem Grollen der Donner über unsere Köpfe hinweg. (2)
Die zweite junge Frau in Shelleys Begleitung hatte zwar keinen Anteil am literarischen Ertrag dieses kalten Sommers - aber eine Schlüsselrolle spielte sie trotzdem, denn ohne sie wären die beiden Gruppen englischer Reisender einander wahrscheinlich nie begegnet. Claire Clairmont war Mary Godwins Stiefschwester. Ihr wirklicher Vorname war Mary Jane, aber um sich von ihrer Stiefschwester zu unterscheiden, nannte sie sich Clara und später Claire. Und um nicht hinter Mary zurückzustehen, hatte auch sie ein Liebesverhältnis mit einem Dichter begonnen, mit einem, der noch viel berühmter war als Shelley - mit Byron selbst, im April 1816, einen Monat bevor er England verließ. Byron hatte sich auf die Affäre eingelassen, aber sonderlich begeistert scheint er von der zudringlichen Claire nicht gewesen zu sein. Und es ist durchaus zweifelhaft, daß er das Wiedersehen am Genfer See schon in England mit ihr verabredet hatte. Claire indessen wollte die Beziehung zu Byron unbedingt fortsetzen. Sie wußte, wohin seine Reise gehen sollte, und sie hatte ihre Stiefschwester und Shelley dazu gebracht, Byron nachzureisen. Vielleicht wußte sie auch schon, daß sie von Byron schwanger war. Das Kind, ein Mädchen, das den Namen Allegra erhielt, kam im Januar 1817 in England zur Welt.
Diese fünf englischen Reisenden also waren die Protagonisten des Gespenstersommers am Genfer See - Byron und Shelley gaben den Ton an, Mary und Claire hörten zu, Polidori redete dazwischen, oder schrieb an seinem Tagebuch.
10. Juni: Auf gegen 9. Machten alles fertig für den Umzug nach Diodati; bezahlten die Hotelrechnung etc. Aufbruch gegen 3; fuhren nach Diodati; kamen zum Abendessen noch einmal wieder und kehrten dann ins Haus zurück. Shelley und so weiter [das heißt: Shelley mit Mary und Claire] kamen zum Tee, wir saßen da und unterhielten uns bis 11.
12. Juni: Ritt in die Stadt. Schrieb mich bei einer Leihbücherei als Mitglied ein und ging abends zu einer Gesellschaft mit Tanz bei Madame Odier. Wurde Mrs. Slaney vorgestellt: sie lud mich für den nächsten Abend ein. Bis 12. Verabschiedete mich und schlief im Gasthof zur Waage.
13. Juni: Ritt heim und dann noch einmal zur Stadt. Besuchte Mrs. Slaney: ein Ball. Tanzte und spielte Schach. Ging unter Donner und Blitzen heim: verirrte mich. Ging zurück, um jemanden zu fragen - stieß auf die Polizei. Schlief in der "Waage". (3)
Während Polidori an diesem Abend das gesellschaftliche Leben von Genf erkundete und dabei ins Unwetter geriet, stand Byron, der kaum in Gesellschaft ging, auf dem großen Balkon seiner Villa und ergötzte sich an einem Naturschauspiel, das ihn zu einer Episode für sein Versepos Childe Harold anregte. In einer Anmerkung zu den Stanzen 92-97 des dritten Gesangs schrieb er:
Das Gewitter, auf
das sich diese
Verse beziehen, ereignete sich am 13. Juni 1816 um Mitternacht. Ich sah
in den Akrokeraunischen Bergen von Chimari mehrfach schrecklichere
Gewitter,
aber nie ein schöneres.
(4)
Spät auf; begann meine Briefe. Ging hinunter zu den Shelleys. Nach dem Essen rutschte ich beim Sprung von einer Mauer aus und verstauchte mir den Fuß. Abends kamen Shelley und so weiter; sprachen von meinem Stück, das nach übereinstimmender Ansicht aller wertlos ist. Später hatte ich mit Shelley ein Gespräch über grundsätzliche Fragen - ob man sich den Menschen als eine bloße Maschine vorstellen dürfe. (6)
Diese grundsätzliche Frage, die Frage nach dem Prinzip des Lebens stand im Mittelpunkt so mancher Unterhaltung zwischen den Bewohnern der Villa Diodati und ihren Gästen. Sie sollte Mary Shelley schließlich zu ihrem Beitrag für jenen Wettbewerb im Gespenstergeschichtenschreiben anregen, von dem wir in Polidoris Tagebuch zum erstenmal unter dem Datum des 17. Juni 1816 hören:
Ging in die Stadt; aß mit Shelley und so weiter hier. Ging nach dem Essen zu einem Ball bei Madame Odier [...]. Versuchte zu tanzen, aber der Schmerz im Fuß war so fürchterlich, daß ich abbrechen mußte. Alle, außer mir, haben mit ihren Geistergeschichten begonnen. (7)
Wahrscheinlich hatte sich am Abend zuvor jene Szene abgespielt, die Mary Shelley später ausführlich geschildert hat:
Endloser Regen zwang uns oft, tagelang im Haus zu bleiben. Dabei gerieten wir an ein paar Bände Gespenstergeschichten, die aus dem Deutschen ins Französische übersetzt waren. [...] "Wir werden auch jeder eine Gespenstergeschichte schreiben", schlug Lord Byron vor, und dieser Vorschlag wurde von uns vieren aufgenommen. - Er, der angesehenste Autor von uns allen, schrieb eine Geschichte, deren Fragment er am Schluß seiner Mazeppa-Dichtung brachte. - Shelley, der es besser verstand, seine Ideen und Gefühle in strahlende Bilder und in die Musik der melodischen Verse unserer Sprache zu kleiden, als das Räderwerk einer Geschichte zu erfinden, begann trotzdem eine zu schreiben, in der er sich auf Erlebnisse seiner Jugend stützte. - Der arme Polidori hatte eine schaudererregende Idee von einer Dame mit einem Totenkopf, die mit dieser Strafe geschlagen war, weil sie durch ein Schlüsselloch gespäht hatte - was sie dabei sah, habe ich vergessen, natürlich etwas sehr Fürchterliches und Schlimmes. [...] Ich selbst bemühte mich sehr, mir eine Geschichte einfallen zu lassen. Ich grübelte und dachte hin und her - vergeblich. (8)
Polidori war also doch nicht der einzige, der mit Verzögerung an die Arbeit ging. Mary Shelley brauchte mehrere Tage, ehe sie begann - Polidori bloß einen. Und dieser nächste Tag, an dem auch Polidori zu schreiben anfing, nahm nicht nur in der Literatur eine gespenstische Wendung:
18. Juni: Mein Fuß noch schlimmer. Shelley mit den Seinen hier. [...] Begann meine Geistergeschichte nach dem Tee. Gegen zwölf wurde unsere Unterhaltung dann wirklich geisterhaft. Lord Byron rezitierte aus Coleridges Christabel einige Verse über die Brust der Hexe:
Shelleys Beitrag zur Lösung der von Byron gestellten Aufgabe ist nicht überliefert. Denkbar ist immerhin, daß er sich, nachdem er wieder zur Ruhe gekommen war, daran machte, seine Schreckensvision auszuarbeiten. Bekräftigt wird diese Vermutung durch die Erinnerungen Byrons, der seinem Eckermann, Thomas Medwin, Jahre später über den literarischen Ertrag dieses Sommers erzählte:
Shelley selbst beschwor eine gräßliche Frau aus seiner Bekanntschaft daheim herauf, eine Art Medusa, von der man argwöhnte, sie habe Augen in den Brüsten. (10)
Byrons Beitrag ist, anders als der von Shelley, erhalten geblieben. Byron hat ihn - notgedrungen, wie sich noch zeigen wird - 1819 veröffentlicht, ein Fragment von fünf Druckseiten, das auf den 17. Juni 1816 datiert ist. Darin schildert der Ich-Erzähler, wie er einen Freund von undurchschaubarem Charakter mit Namen Augustus Darvell auf einer Reise nach Kleinasien begleitet. In der Nähe eines türkischen Friedhofs, inmitten einer menschenleeren Ebene, gibt Darvell seinem verblüfften Reisegefährten zu verstehen, daß er am Ziel sei, nimmt ihm das Versprechen ab, seinen Tod ein Jahr lang geheimzuhalten, und stirbt. Die Fortsetzung der Geschichte hat Byron seinen Freunden in Diodati nur erzählt, und erst deren Berichte machen plausibel, warum Byron seinem Fragment den Titel Der Vampir gegeben hat. Von seiner Reise zurückgekehrt, stellt der Erzähler in England fest, daß sich der Freund, den er in der Türkei begraben hat, wie gewöhnlich in der Gesellschaft bewegt und gerade dabei ist, die Schwester des ehemaligen Reisegefährten zu verführen.
Das bekannteste Ergebnis des poetischen Wettstreits in der Villa Diodati war Mary Shelleys Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Sie selbst hat beschrieben, wie ihr die Idee zu diesem Buch kam:
Bei einem der Gespräche wurde auch die Frage nach dem Wesen des Lebens erörtert. Shelley und Byron sprachen über die Experimente von Erasmus Darwin ... Er habe eine Fadennudel in einem Glas aufbewahrt und durch irgendwelche ungewöhnlichen Mittel dazu gebracht, sich willkürlich zu bewegen. - Aber natürlich könne Leben nicht auf diese Weise gespendet werden. Einen Leichnam könne man vielleicht wiederbeleben, dafür gebe es Beispiele mit galvanischen Versuchen; vielleicht auch könnten die passenden Einzelteile eines Lebewesens zusammengesetzt und mit der Wärme des Lebens versehen werden. - Über diesem Gespräch ging die Nacht dahin, und Mitternacht war lange vorbei, ehe wir uns zur Ruhe begaben. Als ich mich hinlegte, konnte ich weder einschlafen, noch hätte ich behaupten können zu denken. Ungebeten ergriff meine Vorstellungskraft von mir Besitz und beschenkte mich mit einer Folge von Bildern... Ich sah den bleichen Jünger einer unseligen Kunst neben dem Ding knien, das er zusammengesetzt hatte. Ich sah das gräßliche Trugbild eines Menschen ausgestreckt liegen, und dann, auf die Arbeit irgendeiner mächtigen Maschine hin, gab es plötzlich Lebenszeichen von sich. (11)
Der Frankenstein-Roman erschien zuerst 1818 und wurde sofort ein großer Erfolg. Bald tauchten die ersten Dramatisierungen auf, und seit 1910 ist kein Jahrzehnt vergangen, in dem der Stoff nicht mindestens einmal verfilmt wurde. Die Geschichte von der Erschaffung und Belebung eines künstlichen Menschen, übrigens auf rein technisch-wissenschaftlicher Grundlage, ohne Mitwirkung magischer oder göttlicher Kräfte (wie etwa in der jüdischen Sage vom Golem), ist zu einem modernen Mythos geworden, und in der Gestalt, die er in unserer Vorstellung angenommen hat, hat sich der Name Frankenstein von dem Schöpfer des Unwesens abgelöst und ist auf dessen Geschöpf übergegangen - so wie sich im Laufe der Zeit auch die Geschichte, je mehr sie Mythos wurde, von ihrer Verfasserin abgelöst hat. Mancher, dem die Frankenstein-Geschichte gut vertraut ist, hat von Mary Shelley vielleicht noch nie gehört, geschweige denn von den außergewöhnlichen meteorologischen Umständen, unter denen ihr Roman entstand und von denen er in einigen charakteristischen Zügen deutlich geprägt wurde. Die Szenerie, in der Mary Shelley die entscheidenden Abschnitte ihrer Gespenstergeschichte ansiedelt, ist die von Gewittern durchtobte, regengepeitschte alpine Umgebung des Genfer Sees. Und vielleicht verlieh die blitzerfüllte Atmosphäre des verdorbenen Sommers von 1816 der Vorstellung, Leben lasse sich in toten Gliedmaßen durch "galvanische Experimente", durch elektrochemische Verfahren erneuern, eine besondere Plausibilität. In einigen Frankenstein-Filmen ist es sogar die Energie der Blitze selbst, mit der der zusammengestückte Körper des Monstrums zum Leben erweckt wird.
Ebenso merkwürdig, aber verwickelter ist die Entstehungs- und Erfolgsgeschichte des zweiten Gespenstes, das in diesem Sommer zu literarischer Prominenz gelangte. Von Vampiren hatte die abergläubische Welt schon in früheren Zeiten allerlei Nachrichten erhalten. Nach England war die transsylvanische Kunde bisher jedoch kaum gedrungen, und hier steht der erste Auftritt des Vampirs als literarischer Figur im engsten Zusammenhang mit dem kalten Sommer 1816. Organisiert hat diesen Auftritt der vierte Teilnehmer an den Soiréen Mitte Juni in der Villa Diodati, John William Polidori.
Von seiner Geschichte über die Dame mit dem Totenkopf ist außer der spöttischen Bemerkung von Mary Shelley nichts bekannt - vielleicht hat er die Arbeit daran bald wieder aufgegeben und sich in einem zweiten Anlauf an seine Vampir-Geschichte gemacht. Seiner eigenen Aussage zufolge schrieb er sie an "zwei oder drei müßigen Vormittagen" (12) auf Bitten einer Dame aus der Genfer Gesellschaft, der er von Byrons Idee für eine Gespenstergeschichte erzählt hatte. Diese Dame aber mochte nicht glauben, daß sich aus solchem Stoff etwas machen ließe, und Byron hätte ihr wohl zugestimmt (schließlich hinterließ er nur ein Fragment). Aber Polidori wollte das Gegenteil beweisen und schrieb - nach Motiven Byrons unter Hinzufügung eigener Einfälle - seine Geschichte.
Der junge Aubrey schätzt sich glücklich, die Bekanntschaft des bleichen, vor allem die Damenwelt durch sein Fluidum beeindruckenden Lord Ruthven zu machen. Er reist mit ihm auf den Kontinent, entdeckt aber schon bald, daß dem anderen alles Böse zuzutrauen ist. Aubrey trennt sich von ihm, geht nach Griechenland und verliebt sich dort in die schöne Ianthe. Sie warnt ihn vor gewissen Gegenden, in denen nachts die Vampire umgehen. Aubrey gerät aber schon bald in einen besonders verrufenen Wald, wird dort durch ein plötzlich losbrechendes Gewitter bis in die Nacht festgehalten, hört aus einer Hütte die Angstschreie einer Frau, gefolgt von dem Gelächter eines Mannes, und entdeckt schließlich die von einem Vampir hingemordete Ianthe. Aubrey verfällt in einen Fieberwahn und bringt diesen Tod in eine Verbindung mit Lord Ruthven. Als er wieder zur Besinnung kommt, muß er entsetzt erkennen, daß sich eben dieser am Krankenbett eingefunden hat und ihn mit großer Freundlichkeit pflegt. Er gewinnt neues Zutrauen zu Lord Ruthven, und nach seiner Genesung reisen beide durch Griechenland. Bei einem Raubüberfall wird der Lord tödlich verletzt und stirbt, nachdem er - ähnlich wie in Byrons Fragment - Aubrey den Schwur abgenommen hat, binnen eines Jahres niemandem etwas von seinem Tod zu erzählen. Am nächsten Morgen will Aubrey seinen Reisegefährten begraben, aber die Leiche ist verschwunden. Doch als er nach London zurückkehrt, begegnet ihm Lord Ruthven mehrmals wieder, und jedesmal erinnert er ihn an seinen Schwur. Die Sache spitzt sich zu, als Aubrey erkennt, daß Lord Ruthven seine, Aubreys, Schwester heiraten will. Durch den Eid gebunden, kann Aubrey das ihr drohende Unheil nicht abwenden. Erst in der Nacht, in der die Schwurfrist abläuft, berichtet er alles und stirbt alsbald. Man versucht noch, seine Schwester aus den Klauen des Lord Ruthven zu retten - doch beide sind verschwunden: "Aubreys Schwester hatte den Durst eines Vampirs gestillt". (13)
Diese Geschichte erschien anonym 1819 zunächst in einer Zeitschrift, dann als Buch - nicht bei Byrons Verleger Murray, sondern in einem anderen Verlag. Als Byron in Italien ein Exemplar unter die Augen kam, war er wenig erbaut. Die Prosa mißfiel ihm. Auch freute es ihn nicht, in vielen Zügen Lord Ruthvens sich selbst, in dem jungen Aubrey aber seinen einstigen Reisearzt Polidori wiederzuerkennen, von dem er sich, wie noch nachzutragen ist, im September 1816 getrennt hatte. Aber am allerwenigsten freute ihn der Umstand, daß aufgrund von Andeutungen in einem dem Text vorgeschalteten "Brief aus Genf" alle Welt ihn selbst für den wahren Verfasser und die Erzählung selbst für ein Meisterwerk hielt. Byron hatte das Gefühl, es soll ihm etwas untergeschoben werden, ein Machwerk von minderer Qualität solle durch die Verknüpfung mit seinem Namen in einen Rang erhoben werden, der ihm nicht gebührte. Jemand, wahrscheinlich Polidori selbst, betätige sich als Vampir und zapfe seine, Byrons, Ruhmesfülle an, um so viel als möglich davon für den eigenen literarischen Erfolg abzuzweigen. Deshalb ließ Byron im Juni 1819 als Anhang zu Mazeppa sein Fragment mit dem Titel Der Vampir abdrucken. Die Welt sollte sehen, was er selbst in jenem Sommer 1816 zu Papier gebracht hatte. Aber die Welt wollte nicht sehen. Die Welt wollte betrogen werden. Ihr gefiel die Geschichte von Lord Ruthven und dem jungen Aubrey. Die Verkaufszahlen kletterten. Bald ließ der englische Verleger alle Skrupel fallen und setzte - wahrscheinlich wider besseres Wissen - den Namen Lord Byrons auf die Titelseite. Noch im selben Jahr erschien auch eine deutsche Übersetzung "aus dem Englischen des Lord Byron". Übertragungen in andere Sprachen erschienen in rascher Folge. 1828 wurde die Oper Der Vampir des deutschen Komponisten Heinrich Marschner uraufgeführt, auch sie geht auf Polidoris Geschichte zurück. Der Vampir schwang sich zu einem literarischen Siegesflug über ganz Europa auf, der in Bram Stokers Roman Dracula von 1897 seinen höchsten Punkt erreichte.
Ohne Zweifel trug die falsche Zuschreibung zum Erfolg von Polidoris Vampir und des Vampirmythos überhaupt erheblich bei. Ob aber Polidori selbst der Vorwurf der literarischen Falschmünzerei zu machen ist, scheint zumindest zweifelhaft. Er hat zur Frage der Urheberschaft wahrheitsgemäß erklärt, das Gerüst der Handlung stamme von Byron, während er selbst dieses Gerüst nur ausgekleidet habe. Vielleicht wollte Polidori nur seinen und Byrons Anteil an der Geschichte bestimmen und gewichten. Vielleicht wollte er auch beides: Byron das Seine - die Grundidee der Geschichte - lassen und aus der kooperativen Annäherung an Seine Lordschaft für sich selbst Ansehen und Erfolg gewinnen. In diesem Fall aber hatte er die Rechnung ohne den Verleger gemacht. Der nämlich wußte, daß Polidori ein Niemand und Byron das bessere Geschäft war, und deswegen blieb Polidori ungenannt und die falsche Zuschreibung erhalten. Die Verleger auf dem Kontinent hielten es nicht anders. Noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die wirklichen Verhältnisse längst bekannt waren, weigerten sie sich, Polidoris Vampir aus ihren Byron-Ausgaben zu streichen - weil er eines der zugkräftigsten Stücke darin war.
So stellt diese Schauergeschichte nicht nur eine interessante Episode in der Witterungsgeschichte der Literatur, sondern auch eine merkwürdiges Kapitel in der Geschichte des literarischen Ruhms dar. In einem eigentümlich verrenkten, wechselseitigen Vampirismus versuchte hier nicht nur Polidori, von Byrons Ruhm zu zehren, sondern Byrons Ansehen auf dem Kontinent zehrte umgekehrt von einem Werk, das dieser nicht verfaßt hatte. Die Leistung des wirklichen Verfassers, der sich gerade von Byrons Ruhmesglanz genügend Licht für seinen eigenen Auftritt auf der Bühne der Literatur erhofft hatte, wurde auf diese Weise in einen besonders tiefen Schlagschatten gerückt. Polidori wurde zum Opfer eines Phänomens, das der gewitzte amerikanische Soziologe Robert K. Merton als Matthäus-Effekt bezeichnet hat - nach dem Evangelium des Matthäus, wo es in Kapitel 25, Vers 29 heißt: "Denn wer da hat, der wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden." (14) Für den armen Doktor Polidori war der Sommer 1816 ganz besonders kalt.
Der kalte Sommer des Doktor Polidori (Das erste Kapitel)
Fußnoten
1)
Byron
an Hobhouse, 23. Juni 1816, zit. n. Byron in seinen Briefen und
Tagebüchern,
dargestellt von Cordula Gigon, Zürich, Stuttgart: Artemis 1963,
S.337.
2)
Mary
Shelley an Fanny Imlay, 1. Juni 1816, Mary Wollstonecraft Shelley, The
Letters, Bd. 1, hrsg. v. Betty T. Bennett, Baltimore, London: Johns
Hopkins University Press 1980.
3)
John
William Polidori, The Diary of Dr. John William Polidori, 1816.
Relating
to Byron, Shelley, etc. hrsg. u. erläutert von William
Michael Rossetti, London 1911, S. 121f.
4)
George
Gordon Lord Byron, Sämtliche Werke, Bd. 1, München:
Winkler
1977, S. 635.
5)
Byron,
Childe Harolds Pilgerfahrt, 3. Gesang, 92, in: Byron, Sämtliche
Werke, Bd. 1, a.a.O., S. 100.
6)
Polidori,
The Diary, a.a.O., S. 122f.
7)
Polidori,
The Diary, a.a.O., S. 125.
8)
Mary
Wollstonecraft Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus,
übers. v. K. B. Leder u. G. Leetz, Frankfurt: Insel 1988,
(Einleitung
von 1831), S. 12f.
9)
Polidori,
The Diary, a.a.O., S. 127f.
10)
Thomas
Medwin, Conversations of Lord Byron, hrsg. von Ernest J.
Lovell,
Jr., Princeton, N.J.: Princeton University Press 1966, S. 105.
11)
Mary
Wollstonecraft Shelley, Frankenstein, a.a.O., S. 15f.
12)
Polidori,
The Diary, a.a.O., S. 15, 17.
13)
Der
letzte Satz von Polidoris Erzählung The Vampyre. A Tale,
hrsg.
v. Russel Ash, Tring: Gubblecote Press 1974, S. 42; dt. Der Vampyr.
Eine Erzählung aus dem Englischen des Lord Byron, nebst einer
Schilderung
seines Aufenthaltes auf der Insel Mitylene, Leipzig: Leopold Voß
1819.
14)
Vgl.
Robert K. Merton, "Der Matthäus-Effekt in der Wissenschaft", in:
R.
K. M., Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen.
Aufsätze
zur Wissenschaftssoziologie, übers. v. R. Kaiser, Frankfurt:
Suhrkamp
1985.