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Der Wächter des Generals
Auf
einer Anhöhe oberhalb von Weißenthurm, zwischen Koblenz und
Andernach, steht ein Obelisk — so breit wie die ägyptischen,
aber
nur halb so hoch. Die Soldaten der französischen Sambre- und
Maas-Armee
haben ihn zum Andenken an ihren général en chef,
Lazare
Hoche, auf eben jenem Hügel errichten lassen, von dem der General
im April 1797, ein paar Monate vor seinem Tod, den Rheinübergang
seiner
Truppen nach Neuwied leitete. Den Fluß sieht man noch heute von
dort
oben, auch das andere Ufer mit seinen dicht bewaldeten Bergen, und im
Süden,
aus dem flachen Becken aufragend, das sich bis Koblenz dehnt, den stark
taillierten und dennoch unförmigen Kühlturm eines
stilliegenden
Atomkraftwerks.
Das Grabmal des Generals Hoche ist kein
besonders
wichtiger Schauplatz in meinem Buch (1), aber der
einzige,
der sich von Mainz bequem an einem Nachmittag erreichen
läßt.
Deshalb habe ich den Fernsehleuten, die einen kurzen Film über das
Buch drehen wollen, vorgeschlagen, nach Weißenthurm zu fahren.
Das
Monument und der Fluß würden eine interessantere Kulisse
für
das geplante Interview abgeben als mein Arbeitszimmer, habe ich der
Redakteurin
versichert. Und nun spielt sogar das Wetter mit. Es ist kalt und
nieselt
immerzu — genau wie in meinem Buch.
Der Obelisk steht, wie es scheint, auf französischem
Territorium. An dem Tor aus schwarzen Eisenstäben, durch das wir
den
kleinen Park um das Denkmal betreten, prangen die vergoldeten
Buchstaben
»RF« — République Française. Bei meinem
ersten
Besuch, in der Zeit, als ich noch an dem Buch arbeitete, war mir das
Monogramm
nicht aufgefallen. Jetzt fragt mich der Kameramann, ob wir am Ende gar
irgendwo eine Dreherlaubnis einholen müßten.
Doch aufhalten lassen wir uns durch solche Erwägungen
nun nicht mehr. Zögernd, weil wahrscheinlich unbefugt, betreten
wir
das ungewisse Terrain — der Kameramann mit geschultertem
Gerät, seine
Assistentin hinter ihm, das Stativ schleppend, die Redakteurin mit
einer
geräumigen Tasche über der Schulter und einem Aluminiumkoffer
in der Hand. Nur ich bin nicht schon auf den ersten Blick
verdächtig.
Von mir stammt ja bloß die Idee, hierher zu fahren. Und diese
Idee
sieht man nicht.
Plötzlich hören wir hinter uns Schritt. Ein
schmaler Mann mit wachsbleichem Gesicht ist uns gefolgt. Unter einem
ausgespannten
Schirm steht er im Nieselregen. Mitte fünfzig, vielleicht
älter.
Er trägt einen einfachen Mantel und spricht. Nicht zu uns, sondern
vor sich hin. In unsere Richtung.
Ich verstehe nicht gleich, in welcher Sprache, und noch
länger dauert es, bis ich anfange zu begreifen, was er uns sagen
will.
Aber ich ahne schon, daß er der Bewacher dieses Denkmals ist.
Er fragt, ob wir hier Aufnahmen machen wollen, und als
ich mit zaghaftem Nicken und »Oui, monsieur« zugebe,
was sich ohnehin nicht verheimlichen läßt, da verkündet
er, daß es nicht möglich sei, das Monument zu
photographieren.
Der Kameramann, seine Assistentin und die Redakteurin
verstehen anscheinend kein Französisch. Aber sie wittern
Komplikationen.
Ich wittere sie ebenfalls.
Der bleiche Franzose hat vier Postkarten bei sich, auf
denen der Obelisk des Generals Hoche zu sehen ist. Die bietet er uns
an.
Sie sind in grünlichem Schwarz auf dünnem, grauem Karton
gedruckt
— matte, unansehnliche Bilder. Heute sei es nicht mehr
möglich, das
Monument in dieser Vollständigkeit zu photographieren, den
kompletten
Obelisken mit dem Eingang zur Gruft. Bäume seien gewachsen.
Gebüsch
verstelle den Blick. Mir wird klar, daß dieser Mann uns nichts
verbieten
will. Er beschreibt nur die Vorzüge seiner Postkarten. Er
hält
sie dicht vor mich. Er will, daß ich zugreife, und als ich
zögere,
beteuert er: »Mais, c´est gratuit!« und
drückt
mir zwei seiner kostenlosen Karten in die Hand. Ich bedanke mich in
seiner
Sprache, so freundlich ich kann, und schon erbietet er sich, mich in
die
Gruft selbst unter dem Obelisken zu führen.
So viel Entgegenkommen kann ich unmöglich
ausschlagen,
auch wenn der Kameramann meint, der Regen werde jeden Moment
aufhören,
und dann sollten wir doch bitte die Gelegenheit nutzen und das
Interview
drehen. Ich folge dem Franzosen zu einer Gittertür im hohen Sockel
des Denkmals. Umständlich klappt er seinen Regenschirm zusammen,
klemmt
ihn unter den Arm und sucht aufgeregt, mit beiden Händen zugleich,
in den Taschen seines Mantels nach dem Schlüsselbund.
Durch einen dunklen Gang führt er mich in den Raum
unter dem Obelisken. Die Wände ringsum sind mit verstrohten
Blumenkränzen
und blaß gewordenen Trikoloren geschmückt. Hier unten, meint
er, sollten wir filmen. Er werde die Blenden von den
Lichtschächten
nehmen. Heute sei es leider besonders trüb, aber manchmal —
hier verklärt
sich etwas in seiner Stimme —, manchmal falle ein Licht in die
Gruft, daß
der Marmor ganz weiß zu schimmern beginne, wie ein Schneefeld.
Der
General befinde sich übrigens nicht im Sarkophag. Der General
befinde
sich in der Urne, die auf dem Sarkophag steht. Der General ist
spürbar
anwesend. Nicht seine sterblichen Überreste ruhen in der Urne. Er
selbst hält sich darin auf.
»Hier sollten Sie drehen«, wiederholt der
Wächter. »Ça intéresse les allemands!«
Während wir zu den anderen zurückkehren,
erkläre
ich ihm, was wir vorhaben: daß wir für das Fernsehen einen
kleinen
Film über ein Buch von mir drehen wollen und daß in diesem
Buch
der Obelisk des Generals Hoche vorkommt. Ich kann erkennen, wie dieser
Gedanke Besitz von ihm ergreift und wie sehr er ihn entzückt.
Wovon
das Buch handle, fragt er mich, während er die Gittertür
hinter
uns verschließt. »Vom Regen«, antworte ich,
»von
dem berühmten Lord Byron und seinem médecin inconnu.«
Auf ihrer Reise an den Genfer See seien die beiden hier vorbeigekommen
und hätten das Denkmal besucht, im kalten Sommer des Jahres 1816,
ein Jahr nach Waterloo. Täusche ich mich, oder versteht er den
Namen
Waterloo wirklich nicht? Will er ihn nicht verstehen? Es könnte
hier
draußen etwas ordentlicher aussehen, meint er. Gestern habe er
Laub
fegen wollen, und vorgestern auch, aber das Wetter sei ihm
dazwischengekommen.
»Et que voulez-vous? C´est vieux d´ailleurs!«
Wenn ein Denkmal erst einmal so alt geworden sei, verliere die
Beseitigung
von welken Blättern ihre Dringlichkeit. Er will mich nicht
fortlassen.
»Kommen Sie«, sagt er, »es dauert nur einen
Augenblick!
Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das sehen die Leute nie!«
Auch ich habe bei meinem ersten Besuch die mit kniehohen
schwarzen Gittern eingefaßte Stelle hinter ein paar
Sträuchern
nicht bemerkt. »Das ist die Platte des ersten Grabes aus der
Zeit,
bevor das Monument errichtet wurde. Da lag der General« —
der Wächter
stockt, setzt von neuem an, stockt wieder — »da lag er in
Koblenz,
neben Marceau, der fiel, bei Altenkirchen, der General fiel nicht, der
General starb, in Wetzlar, an einer Krankheit, ein Jahr nach Marceau,
im
September 1797. Im Frühjahr hatte er noch den Feldzug
eröffnet,
hier... an dieser Stelle... über den Rhein... ein kühner
Mann...
acht Fahnen nahm er den Österreichern bei Neuwied ab... acht
Fahnen,
fünftausend Männer, sechzig Munitionswagen,
siebenundfünfzig
Kanonen...« Die Erklärungen werden immer aufgeregter,
geraten
ins Straucheln, überstürzen sich, und eine Zeitlang tue ich
nur
noch so, als könnte ich folgen — bis mir plötzlich klar
wird,
daß der Wächter nicht mehr über das Denkmal und die
beiden
Generäle und ihre Heldentaten spricht, sondern mir zu
erklären
versucht, warum er so sehr ins Stottern geraten ist. Seit sechs Jahren
sei er hier. Spreche kein Deutsch. Habe keinen Umgang mit den
Einwohnern
des Ortes. »Pour moi, ce n´est pas une ville.«
Franzosen kämen so selten hierher, daß er jedesmal ins
Stammeln
gerate, wenn er längere Zeit spreche. Nach und nach legt sich die
Verstörung in seiner Stimme. Doch ganz verschwindet sie an diesem
Nachmittag nicht mehr.
Während ich auf dem Sockel des Obelisken das Interview
absolviere,
verbirgt sich der Wächter in den Grünanlagen. »Je ne
vous gêne pas«, sagt er, ehe er sich zurückzieht,
und wedelt dabei beschwichtigend mit den Händen.
Zuletzt soll auch das Buch selbst noch ins Bild gesetzt
werden. Aber nirgendwo findet sich ein trockener Platz. »Das ist
mein Exemplar!« ruft die Redakteurin. Trotzdem
muß der
Kameramann es ins Nasse stellen, auf eine feuchte Mauer.
Ich werde nicht mehr gebraucht und mache mich auf die
Suche nach dem Wächter des Generals. Hinter einem Gebüsch
finde
ich ihn. Er hat auf mich gewartet und lächelt verlegen. Ob er mit
seiner Familie hier lebe, frage ich ihn. Nein, antwortet er, ganz
allein.
Seit sechs Jahren. »Ich wollte hier so viel machen. Bäume
pflanzen.
Beete anlegen. Aber nie ist Geld da. Nur für das
Allernötigste.«
Vor ein paar Jahren drohte der Obelisk in Stücke zu fallen, da
habe
man ihn notdürftig restauriert, jedoch längst nicht so, wie
es
richtig und angemessen gewesen wäre. In der Hitlerzeit hätten
deutsche Polizisten das Monument vor Übergriffen geschützt.
Ein
anderes französisches Denkmal in der Gegend sei damals
zerstört
worden.
Was er getan habe, bevor er das Denkmal zu hüten
begann, frage ich. »Oh«, sagt er, »ich bin gereist
—
vierunddreißig Jahre lang bin ich gereist.« —
»Tatsächlich?
Vierunddreißig Jahre unterwegs und dann plötzlich sechs
Jahre
an einem Fleck?« Er nickt. »J´ai fait ce
qu´on
appelle en français la >Coloniale<.« Er war
Soldat
— nach dem Krieg zuerst in Deutschland, dann in Übersee,
Marokko,
Tunesien, Vietnam, Djibouti, Madagaskar, Algerien, und nun sei er hier,
angestellt und bezahlt von einer Abteilung des Außenministeriums
in Paris.
»Haben Sie noch eine Minute?« fragt er.
»Nur
eine Minute! Kommen Sie, da gibt es noch etwas!«
Er führt mich durch das Gittertor mit den vergoldeten
Initialen hinaus und über die Straße zu seinem Haus. Neben
der
Tür hängt ein verwittertes blaues Holzschild mit der
weißen
Aufschrift »Surveillant«.
»Ich kann Sie nicht in meine Wohnung
einladen«,
entschuldigt er sich. »Als ich diese Wohnung vor sechs Jahren
übernahm,
war sie grauenhaft, und ich habe mich so geärgert, daß ich
nichts
verändert habe. Ich habe alles so gelassen, wie es war — pas
bon.«
Also bleiben wir im Hausflur stehen. Hier hängen die beiden
Bilder,
die er mir zeigen will: Schüler aus Andernach, die vor ein paar
Jahren
eine Zeitung über das Denkmal hergestellt haben, umringen ihren
Lehrer.
In einem zweiten Rahmen die gleiche Gruppe, aus einem anderen
Blickwinkel,
in größerem Format. Der Surveillant drückt mir ein
Papier
in die Hand, das er aus einem Schrank genommen hat, ein Exemplar jener
Andernacher Schülerzeitung. »Wie gut, daß ich noch
rechtzeitig
nach Hause gekommen bin«, sagt er. Er habe schließlich
nichts
dagegen, daß bei ihm gefilmt werde. Im Gegenteil. Aber es
würde
ihn gewurmt haben, wenn er nichts davon mitbekommen hätte. Ich
versuche
mich zu verabschieden, doch er will mich noch immer nicht gehen lassen.
»Was war das für ein Buch, von dem Sie da vorhin
sprachen?«
fragt er. »Ich möchte es kaufen. Wovon, sagten Sie, handelt
es? Vom Regen?« — »Ja, vom Regen.« Ich
verabschiede mich
noch einmal. Aber diese Zeitung, sage ich zuletzt, die koste doch
etwas,
und das wolle ich auch bezahlen. »Mais non«, er hebt
abwehrend eine Hand und winkt, »c´est gratuit ... tout
est
gratuit.«
(1) Der kalte
Sommer des Doktor
Polidori (in dem Kapitel "Rheinaufwärts"). Zum Anfang
dieses
Romans gelangt man hier.
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Erstdruck in der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung,
31. August 1997. (c) Reinhard Kaiser.