Sehr verehrte Frau Ledig-Rowohlt, lieber Herr Naumann, lieber Herr
Frielinghaus,
meine Damen und Herren,
ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, wenn Sie einem Übersetzer und seiner Arbeit Anerkennung zuteil werden lassen, wenn Sie das, was er im Laufe der Jahre angerichtet hat, auszeichnen und mit Lob und Preis bedenken: Sie fördern - den Verrat, leisten ihm Vorschub, billigen ihn. Sie bestärken einen Verräter in seinem zwielichtigen Tun.
Daß der Übersetzer ein Verräter sei - darauf sind die Italiener vielleicht nur deshalb gekommen, weil dieser Gedanke in ihrer Sprache so hübsch klingt. Die Formel ist bekannt: traduttore, traditore - und es ist wohl möglich, daß es sie ohne die ihr eigene Wortspielmusik gar nicht gäbe. Seriöse Leute, solche, die den Sprachernst vom Spiel mit den Wörtern immer und überall genau zu unterscheiden wissen, könnten deshalb auch gleich einwenden, nicht der Übersetzer werde hier als Verräter enttarnt, sondern der Erfinder der These entlarve sich selbst als ein solcher: um des Wohlklangs willen habe er einen ganzen Berufsstand in Verruf gebracht und also die Wahrheit an den Witz verraten. Im übrigen könne es mit einer Wahrheit nicht weit her sein, die sich nur in einer Sprache und auch in ihr nur durch einen Klangzufall zu erkennen gibt.
Aber das alles ändert nichts daran, daß die Italiener recht haben: der Übersetzer ist ein Verräter, und er muß einer sein, wenn er das tun soll, was ihm aufgegeben wird oder was er sich zu tun vorgenommen hat. Und dies, obwohl oft oder fast immer, wenn die Aufgabe des Übersetzers umschrieben wird, ausgiebig von Treue die Rede ist. Doch das, so scheint mir, ist bloß eine fromme Redensart, die den Abgrund von Verrat kaum überdecken und schon gar nicht überbrücken kann, der sich öffnet, wenn man ins Auge faßt, was ein Übersetzer tut, wenn er tut, was er tut. Darf ich Sie zu einem kurzen Blick in diesen Abgrund einladen?
Der Übersetzer verrät, wenn er sich ans Werk macht, zunächst einmal den Verfasser des Originals, das er übersetzt. Er tut dies, indem er sich, unter dem Vorwand, jenem einen Dienst zu erweisen, eine Zeitlang groß aufspielt und den Verfasser von seinem Platz verdrängt, indem er dessen Sprache Wort für Wort, Satz für Satz zum Verschwinden bringt und durch seine eigene Sprache ersetzt.
Er verrät auf diese Weise natürlich auch das originale Werk, nämlich dessen Unverwechselbarkeit und Originalität. Er verstellt den Blick auf das Original mit einem eigenen Sprachgebilde. Er verhängt die Genialität oder den Genius des Originals mit dem längeren oder kürzeren Mantel seiner eigenen "Kongenialität".
Sodann verrät er sein Publikum. Nachdem er sich hervorgetan und aufgespielt hat, macht er sich, um die Illusion möglichst vollkommen werden zu lassen, rechtzeitig vor dem Erscheinen seines Werkes wieder nahezu unsichtbar und gaukelt seinen Lesern vor, sie läsen ein Original. Es ist klar, daß sein Verrat am Publikum dann besonders schwer ausfällt, wenn ihm dieses Gaukelspiel besonders gut gelingt.
Der Übersetzer verrät schließlich auch den Vertrag, den er unterschreibt, und damit den Verlag, für den er arbeitet. Skrupellos und, zumindest äußerlich, seelenruhig erklärt er sich bereit, einander widerstreitende Aufgaben lösen und einander widerstreitende Pflichten erfüllen zu wollen. Er verpflichtet sich zur Treue dem Original gegenüber, unmittelbar bevor er daran geht, sich seiner Aufgabe zu widmen, die gerade darin besteht, diesem Original nach allen Regeln der Kunst untreu zu werden.
Der Übersetzer verrät eben alle und alles, auch sich selbst - Traduttore, traditore.
Doch soviel Verrat rächt sich. Seine Treulosigkeit fällt auf den Übersetzer zurück. Die Atmosphäre von Verrat, die er erzeugt, hüllt auch ihn selbst in Schwaden von Ungewißheit. Nie kann er sich in Sicherheit wiegen. Auf nichts und niemanden kann er sich verlassen. Vor allem nicht auf sich selbst. Und wenn er im Laufe der Jahre noch so viele Bücher verraten hat, wenn er über Jahre und Jahrzehnte der Erfahrung in seinem sinistren Gewerbe verfügt - nie kann er sicher sein, daß ihm nicht plötzlich die Wörter, mit denen er umgeht, unter den Händen unhandlich und unerträglich, untragbar und unübertragbar schwer werden. Nie ist das Gelingen garantiert. Das nächste Buch ist immer das schwerste. Und leicht zu übersetzende Bücher gibt es nicht.
Mir scheint, Übersetzen kann man nicht können - man kann nur, angesichts zahlreicher Varianten möglichen Scheiterns, immer von neuem probieren, bis zu welchem Punkt es gelingt. Manchmal gelingt es stellenweise und manchmal über Strecken. Das ist dann ein großes Glück. Ganz gelingt es nie. Deshalb muß man das Übersetzen wohl zu jenen "unmöglichen Berufen" zählen, auf die Sigmund Freud einmal halb im Scherz, halb im Ernst zu sprechen kommt: Beim Erziehen, beim Kurieren und beim Regieren, so schreibt er, könne man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein, und fügt hinzu, auch das Analysieren unterliege dieser Einschränkung. Das gleiche gilt für das Übersetzen.
Kein Grund zum Resignieren, finde ich, kein Grund zum Klagen. Im Gegenteil: darin besteht einer der großen Reize des Übersetzens. Deshalb wird es nicht langweilig. Deshalb macht mir das Übersetzen Spaß. Deshalb freue ich mich, daß Sie mir durch die Verleihung des Heinrich Maria Ledig-Rowohlt Übersetzerpreises die Chance geben, mit mehr Zeit und Muße, als gewöhnlich zur Verfügung stehen, diesem unmöglichen Beruf nachzugehen, und daß Sie mich ermuntern und ermutigen, so gut ich kann, Verrat zu üben. Dafür danke ich Ihnen sehr.
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