Die Lupe
Die
Passarges zogen zu uns, als das Haus nach dem Krieg wieder aufgebaut
war.
In den zweiten Stock, zur Miete. Dort gingen sie über unseren
Köpfen
umher - Vater, Mutter, Tochter - und genossen obendrein die Vorteile
des
einzigen Balkons am ganzen Haus. Ich hatte zwar einen Garten voller
Gelegenheiten
und Geheimnisse, ein Gelände, das gegen die
Nachbargrundstücke
und die Gasse an seinem Ende mit hohen Mauern befestigt war. Trotzdem
beneidete
ich Inge Passarge um den Balkon mit der dunkelbraun gestrichenen,
hölzernen
Ballustrade, von dem sie wie von der Kommandobrücke eines Schiffes
über den Garten und ins Weite sehen konnte.
Wenn sie mich von dort oben entdeckte und
nichts anderes zu tun hatte, kam sie manchmal herunter. Sie war
älter
als ich, vier Jahre älter, schon elf. Aber dieser Unterschied fiel
nicht ins Gewicht, wenn Inge mich in meinem Garten besuchte. Dort
kannte
ich mich allemal besser aus als sie. Und außerdem hatte sie von
vielem
wenig Ahnung. Von manchem wußte sie gar nichts und ich jedenfalls
mehr als sie. Sie ging schon aufs Gymnasium und wollte mir trotzdem
nicht
glauben, daß man ohne Streichhölzer Ameisen anzünden
kann.
»Jetzt spinnst du!« sagte sie.
»Mit Sonnenschein!« beteuerte
ich. »Du wirst sehen!«
Ich ging ins Haus zu meinem Vater und bat mir die Lupe aus, durch die
er mich gelegentlich in sein Briefmarkenalbum sehen ließ. Er
saß
am großen Tisch in seinem Atelier über einem Aquarell, neben
sich zwei Farbkästen mit vielen Reihen kleiner eckiger Näpfe
und ein Wasserglas zum Ausspülen der unterschiedlich breiten
Pinsel,
mit denen er abwechselnd arbeitete. Ich wußte, in welcher
Schublade
er die Lupe aufbewahrte. Aber ich mußte warten, bis er mit
besonders
wäßrigem Pinsel einen Hintergrund in hellem Blau angelegt
hatte.
Selberkramen war in seinen Schränken nicht erlaubt.
Die Lupe hatte sich schon einige Male als
nützlich erwiesen. Durch sie hatte ich mit eigenen Augen
bestätigt
gefunden, was ich meinem Vater nicht hatte glauben wollen: daß
die
»Germania« auf den alten deutschen Marken tatsächlich
eine Frau war. Sie steckte in einer eisernen Rüstung, trug die
Kaiserkrone
Karls des Großen auf dem Kopf (die ich aus dem
Zigarettenbilder-Album
»Die Großen der Weltgeschichte« genau kannte) und sah
trotz des langen Lockenhaars nicht wie eine Frau aus, sondern wie ein
junger
Sieger. Aber zwei Wölbungen, zwei flache, spitz zulaufende Kegel
auf
dem Brustpanzer waren unter der Lupe deutlich zu erkennen und
ließen
keinen Zweifel, welchen Geschlechts das leibhaftige Deutsche Reich war.
Mit der Lupe meines Vaters hatte ich auch
herauszufinden versucht, was an »Adolf dem Fiesen« zu ein
Pfennig
in schwarz, zu drei Pfennig in braun, zu sechs Pfennig in lila, zu
zwölf
Pfennig in rot (und so weiter, die Farbpalette hinauf und hinunter -
nur
Gelb fehlte) - was an diesem Gerücht von einem Bösewicht denn
nun so besonders widerwärtig gewesen war. Es mußte der
Schnäuz
sein.
Solange ich mir auf dem Rückweg in den Garten die Lupe
mit angewinkeltem
Arm halbnah vors Auge hielt, verschwammen der Hausflur und die offene
Tür
zum Hof hinter dem gewölbten Glas. Doch sobald ich den Arm
ausstreckte,
zeigten sich im kreisrunden Lupenauschnitt klare, wenn auch kleine
Bilder.
Inge auf dem Kopf stehend vor der Schaukel, deren Seile aus einer
über
dem blauen Himmelsboden schwebenden Teppichstange straff in die
Höhe
wuchsen. Vor ihr, ebenfalls auf dem Kopf, saß mein Freund Lorenz.
Er wohnte im Haus nebenan und mußte über die Gartenmauer
gekommen
sein, während ich die Lupe geholt hatte. Es gab da einen bequemen
Übergang, einen Birnbaum mit Ästen, stark wie Leitersprossen
auf unserer Seite und ein paar tief ausgehöhlte Fugen zwischen den
Mauersteinen auf seiner Seite, die als Tritte dienten.
Es kam darauf an, die Lupe so in die Bahn
des Sonnenlichts zu halten, daß der hindurchfallende Strahl nicht
verkantete. Außerdem mußte der richtige Abstand gefunden
werden,
jene Entfernung zum Boden, in der sich der helle, eiförmige
Lichtfleck
zum Glutpunkt verdichtete. Dieser Glutpunkt, das konzentrierte Abbild
der
Sonne, konnte sich dann in Bewegung setzen, hierhin oder dorthin
streifen
und Opfer suchen. Die waren rasch gefunden. Überall krochen sie
herum,
auch in der Nähe des Sandkastens, rotbraun und feingliedrig, und
sie
bissen, wenn man sich ungeschickt anstellte. Durch die Lupe konnte ich
sie auf ihren Wegen beobachten, ohne daß sie es bemerkten. Ich
konnte
ihnen beim Marschieren und Stöbern, beim Räumen und Schleppen
zusehen. Sobald ich aber die Sonne selbst durch die Lupe sehen
ließ,
bemerkten sie es sofort, falls sie noch die Zeit hatten, etwas zu
bemerken.
Ein kaum hörbares Knistern, eine winzige Rauchfahne, und schon
waren
sie verglüht. Zurück blieb ein verkohltes, verkrümmtes,
geschrumpftes Etwas.
Inge sah mir gespannt zu.
»Da ist noch eine!« sagte sie.
»Und da! Und da...«
Aber nach dem sechsten oder siebten Knistern zielte ich mit dem
Glutpunkt
plötzlich nicht mehr nach der nächsten Ameise, auf die Inge
deutete,
sondern auf den Finger, mit dem sie es tat.
»Laß den Quatsch! Das tut
weh!«
schimpfte sie. Dabei hatte ich sie gar nicht getroffen.
»Stell dich nicht an!« sagte ich
und hielt mir zum Beweis meiner Unerschrockenheit die Lupe über
den
eigenen Unterarm. Aber noch bevor ich den hellen Fleck auf seinen
kleinsten
Umfang hatte schrumpfen lassen, begannen einige Härchen auf meiner
Haut zu rauchen, und mit dem Schmerz verbreitete sich zugleich auch
jener
durchdringende, widerwärtige Geruch, der in der Metzgerei von
Lorenz´
Vater nebenan aufkam, wenn dort an einer Schweinehälfte mit einer
Art Lötlampe die letzten Borsten abgeflämmt wurden.
Verbrannte
Fingernägel rochen genauso.
Plötzlich kam ich mir selbst vor wie
so ein halbes, abgeflämmtes Schwein, und Inge lachte mich aus,
weil
sie mir meinen Schreck über den stinkenden Rauch, den Schmerz und
das Schweinsein ansah.
Lorenz war zum Komposthaufen neben dem immer verschlossenen
Eingang
des alten Luftschutzbunkers am Ende des Gartens hinübergegangen.
Nun
kam er mit siegesbewußter Miene zurück. Es sah aus, als
trüge
er die eigene Hand vor sich her, eine hohle Hand. Ich ahnte, was darin
war. Inge ahnte nichts. Sie stieß einen Schrei aus, als Lorenz
ihr
den Regenwurm unter die Nase hielt, der nicht einmal besonders lang
oder
besonders dick war. Lorenz ließ ihn zwischen uns auf den Boden
fallen
und sagte: »Gib mal.«
Doch ich wollte die Lupe nicht hergeben. Ich
wollte es selbst tun, auch wenn der Wurm Lorenz´ Wurm war.
»Du hast sie nun schon die ganze Zeit
gehabt!«
Ich schüttelte den Kopf. Lieber sollte
sich der Wurm unbehelligt verkriechen, als daß ich Lorenz die
Lupe
und die Schau überließ. Zu dritt hockten wir da und
beobachteten,
wie der Wurm versuchte, sich in die Tiefe zu bohren, wie er sich im
trockenen
Staub neben dem Sandkasten lang und immer länger machte, wie er
das
Weite suchte und nicht fand. Bald sah er nicht mehr glitschig und
glänzend
aus, wie am Anfang, sondern rundherum paniert.
Wurmlang und glitschig, ringelte sich irgendwo
hinter uns auch das schlechte Gewissen. Aber wir sahen nicht hinter
uns.
Wir durften den Regenwurm nicht aus den Augen lassen. Schließlich
brachte ich zögernd die Lupe in Stellung und hätte sie Lorenz
nun gern überlassen, wenn er noch einmal versucht hätte, sich
ihrer zu bemächtigen. Lorenz jedoch kauerte neben mir und sah zu.
Wichtiger, als daß er es tat, war ihm jetzt anscheinend,
daß
es überhaupt geschah. Wahrscheinlich war es ihm inzwischen sogar
lieber,
nur zuzusehen.
Er ging öfter zur Beichte als ich. Seine
Eltern schickten ihn regelmäßig, jeden zweiten oder dritten
Samstag. Und weil er Missionar werden wollte, beichtete er wohl auch
gewissenhafter
als ich und mehr im einzelnen. Vielleicht war ihm eingefallen,
daß
er, wenn er hier selbst Hand anlegte, bei der nächsten Beichte die
Sprache auf Wurm- und Lupenfrevel würde bringen müssen. Mich
indessen plagten solche Befürchtungen nicht. Ich verstand mich
aufs
Bemänteln, auch beim Beichten.
In meinen Bekenntnissen kamen Einzelheiten
nicht vor. Bald nachdem ich zum erstenmal zur Beichte gegangen war,
hatte
ich mir angewöhnt, hinter Formeln, Andeutungen, Gemeinplätzen
in Deckung zu bleiben, beschränkte mich auf ein paar immergleiche
Selbstbezichtigungen, die ich auch dann vorbrachte, wenn sie gar nicht
zutrafen, nur damit ich etwas halbwegs Unverfängliches zu sagen
hatte:
mit Freunden gestritten, ihnen Schimpfwörter gesagt, meine
Großmutter
geärgert, ungehorsam gegen die Eltern, unaufmerksam in der Schule
gewesen - und kein Kaplan hatte mich, während ich im Beichtstuhl
kniete
und schmale Wahrheiten von mir gab, je nach Erläuterungen gefragt.
Sonderbarerweise fühlte ich mich nach vier Vaterunsern und vier
Gegrüßet
seist du Maria trotzdem wie frisch gebadet und ehrenvoll entlassen.
Der Wurm zuckte, als der Hitzepunkt seinen
Leib traf. Er bäumte sich auf. Er ringelte und wälzte sich so
wild, wie es sonst gar nicht die Art von Regenwürmern ist. Ich
erschrak.
»Georg, der Drachentöter!«
lachte Lorenz übertrieben laut und war doch selbst erschrocken.
»Der arme Wurm«, murmelte Inge.
Anfassen mochte sie ihn trotzdem nicht. Soweit
reichte das Mitleid nicht. Und die Ameisen vorhin hatte sie selbst eine
nach der anderen zur Verbrennung ausgesucht. Ich ließ die Lupe
sinken
und nahm den versehrten, versengten, erschlafften, vielleicht schon
toten,
vielleicht noch lebenden, über und über mit Sandkörnern
beklebten Wurm zwischen zwei Finger und schleuderte ihn über die
Gartenmauer,
nicht nach der Seite, auf der Lorenz wohnte, sondern nach der anderen,
wo die Glücks wohnten, zwei alte Leute ohne Kinder, die den Garten
ihrem Hund, einem unberechenbaren Boxer namens Fritz, überlassen
hatten.
Dorthin flog der Wurm, uns aus den Augen, aus dem Sinn. Sollte sich
Fritz
um ihn kümmern. Im übrigen waren Würmer so gut wie
unsterblich.
»Wenn man einen Wurm mit dem Spaten
zerhackt«, verkündete ich, »leben die beiden
Hälften
um so länger.«
»Optimist!« erwiderte Inge. Sie
war vier Jahre älter als ich und kannte Wörter, von denen ich
nichts wußte. Sie stand auf und ging davon, als wollte sie nichts
mehr mit mir zu tun haben und nie mehr von ihrem Balkon zu mir
herunterkommen.
»Und nicht vergessen...«, rief
mir Lorenz von der Höhe der Gartenmauer zu, bevor er nach der
anderen
Seite hinuntersprang: »Hitler lebt - und zwar in Japan!« Es
war seine Lieblingsthese, seine Parole. Es machte ihm nichts aus, wenn
ihm niemand glaubte und er mit seinem Wahlspruch nur Kopfschütteln
erntete. Er glaubte an das, was er sagte. Er glaubte so fest daran, wie
er entschlossen war, Missionar zu werden. Lorenz war keiner von denen,
die sich mit verstiegenen, erfundenen, aus der Luft gegriffenen
Behauptungen
interessant zu machen versuchten.
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