Verstreute Werke :::::::::::::::::::::
        Reinhard Kaisers Elektroarchiv

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            Mein privates Kunstmodell

            Der Jazz, den ich höre und den ich mir als verwegener Liebhaber auf dem Klavier selbst ertaste, ist eines meiner Kunstmodelle. Mit seiner Hilfe gelingt es mir hin und wieder, Klarheit darüber zu gewinnen, was ich tue, wenn ich eine Geschichte schreibe, oder wie ich es anstellen muß, damit sie so wird, wie sie sein soll. Ich denke mir dieses Modell der Einfachheit halber als eine phantastische Maschine von mittlerer Größe, eine Mehrzweckmaschine mit verschiedenen Achsen, Transmissionsriemen, Übersetzungen, einem Fliehkraftregler und mit zwei Schwungrädern, die für den Bewegungsablauf besonders wichtig sind: "Improvisation" und "Unterhaltsamkeit".
               
            Improvisation im Jazz ist bekanntlich nicht willkürliches Walten und Schalten ohne Regel und Voraussetzung. Improvisieren ist auch nicht, wie im Alltag, verlegenes Hinweggleiten über eine Situation, auf die niemand vorbereitet war. Improvisieren bedeutet vielmehr auf eine wohlerwogene Art und Weise harmonische und rhythmische Verhältnisse schaffen, in denen die Musiker sich selbst und ihre Zuhörer überraschen können. Zwischen Freizügigkeit und Notation, zwischen ungehemmter Spontaneität und ausgetüfteltem Arrangement sucht und erfindet die Improvisation ihren Weg. Ihr Reiz besteht darin, daß nicht nur der schließlich gefundene Weg und die fertige Erfindung wahrnehmbar werden, sondern auch der Prozeß des Bahnens und Findens selbst.
               
            Ich fürchte, für Jazzmusiker oder Jazzkenner klingen diese Sätze wie Binsenweisheiten. Aber in meinem privaten Kunstmodell nehmen sie sich keineswegs wie Selbstverständlichkeiten aus. Ich bin noch nicht aus dem Staunen darüber herausgekommen, wie sehr auch das erfindende Schreiben seinen Reiz aus dem Umgang mit dem Unberechneten, Ungeplanten gewinnt, und zwar, wie beim Jazz, aus einem überlegten, behutsamen Umgang mit ihm. Denn völlig planlos darf nicht verfahren, wer eine längere Geschichte zu Papier bringen will. Die Voraussetzungen müssen erwogen sein, die Schauplätze, die Zeit, die handelnden Personen, auch die Neigung der Handlung, eine Idee davon, wohin das ganze sich wenden soll. Ich muß manches wissen, bevor ich eine Geschichte beginnen kann, aber alles will ich nicht wissen. Und vielleicht erweist sich das, was ich vorher nicht wußte, nachher als das Wichtigste. Auch hier also Improvisation -- nicht Vorplanung bis ins letzte Detail, nicht Notation, sondern Herstellung von Bedingungen, in denen sich unverhoffte Einfälle einstellen können, in denen ich mit meiner Geschichte mich selbst - und später hoffentlich auch die Leser - überraschen kann, so daß ich bald nicht mehr als unumschränkter Herrscher über die Handlung und die handelnden Figuren regiere, sondern, von ihnen gleichsam gefangengenommen, dasitze und, während ich schreibe, während ein Wort das andere gibt, selbst gespannt bin, wie es weitergeht.

            Improvisation, so verstanden, scheint mir eine gute Voraussetzung, wenn auch gewiß keine Garantie dafür zu sein, daß eine Geschichte, an der ich schreibe, jene Eigenschaft gewinnt, die ich ihr wünsche - Unterhaltsamkeit. Nun gibt es allerdings Leute, die einen solchen Wunsch, zumal in Deutschland, für tollkühn halten. Die Unterhaltsamkeit, so scheint es, ist hierzulande ein wenig in Verruf geraten. Wo es unterhaltsam zugeht, da wittern viele, die sich tiefe Gedanken über die Kunst, die Musik und die Literatur machen, Seichtigkeit, Untiefe, Anbiederung an das Publikum, Kommerz, eben das Gegenteil von "Ernst". Und manchmal haben sie gewiß auch recht. Aber die Angst vor den Untiefen der Unterhaltsamkeit, kann, wenn sie die Literatur erfaßt, zu einer Abneigung gegen die Unterhaltsamkeit schlechthin verklumpen und auf dem Papier zu einer trotzigen Sprödigkeit.

            Mir hilft an diesem Punkt mein privates Kunstmodell. Der Jazz, so scheint mir, ist eine Kunst, die sich, gleichgültig, wie Programmbürokraten im Rundfunk und anderswo darüber denken, gegen die Einteilung der Klang- und Kunstwelt in "U" und "E" sperrt. Der Jazz ist eine unterhaltsame Kunst, die sich in dem Wunsch, zu unterhalten, nicht erschöpft, die auch in ihrer Unterhaltsamkeit ernst sein kann oder in ihrem Ernst und der Trauer, die sie auszudrücken vermag, unterhaltsam. Eben Kunst - spielerischer Ernst, ernstes Spiel, Spiel mit dem Ernst. In meinem privaten Kunstmodell ist Unterhaltsamkeit also nicht das Gegenteil von Ernst, sondern das Gegenteil von Langeweile und insofern ein notwendiges Ingredienz der Kunst, nicht ihr Ziel und letzter Zweck, aber eine Voraussetzung, ohne die sie nicht gelingt, ein Gegengift gegen das gewöhnliche Langweilige, das uns die Zeit stiehlt, indem es sie auf eine paradoxe Weise kürzt. Zuerst zieht sich das Langweilige zwar, wie der Name schon sagt, in die Länge. Geradezu schmerzhaft dehnt es sich ins beinah Endlose. Aber nachher, wenn es endlich doch zu Ende ist, bleibt nichts oder fast nichts zurück. Die Zeit ist vertrieben, totgeschlagen. Über dem Kurzweiligen hingegen vergeht uns die Zeit wie im Fluge, und nachher bleibt der Eindruck, es habe sich während dieses Fluges in die Spanne einer bestimmten Zahl von Stunden oder Tagen mehr Zeit gedrängt, als eigentlich hineinpaßt. Es verhält sich nämlich so, daß uns das Kurzweilige die Zeit auf eine unmerkliche Weise lang macht. In gewissem Sinne schenkt es uns sogar Zeit, und etwas Kostbareres läßt sich so leicht nicht schenken. Das Reisen hält solche Geschenke oft bereit und auch die Kunst - der improvisierende Jazz zum Beispiel und, wenn sie glückt, die unterhaltsame Literatur.

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            Zuerst für den Westdeutschen Rundfunk 1991. Erstdruck in: "Teil meiner selbst". Niederrhein-Lesebuch, hrsg. von Jochen Arlt u. Irmgard Bernrieder, Pulheim: Rhein Eifel Mosel-Verlag 1992. Noch einmal in: Neue Rundschau, 1995/2, Frankfurt: S. Fischer 1995.  (c) Copyright Reinhard Kaiser.