Mein
privates Kunstmodell
Der Jazz, den ich höre und den ich mir als verwegener Liebhaber
auf
dem Klavier selbst ertaste, ist eines meiner Kunstmodelle. Mit seiner
Hilfe
gelingt es mir hin und wieder, Klarheit darüber zu gewinnen, was
ich
tue, wenn ich eine Geschichte schreibe, oder wie ich es anstellen
muß,
damit sie so wird, wie sie sein soll. Ich denke mir dieses Modell der
Einfachheit
halber als eine phantastische Maschine von mittlerer Größe,
eine Mehrzweckmaschine mit verschiedenen Achsen, Transmissionsriemen,
Übersetzungen,
einem Fliehkraftregler und mit zwei Schwungrädern, die für
den
Bewegungsablauf besonders wichtig sind: "Improvisation" und
"Unterhaltsamkeit".
Improvisation im Jazz ist bekanntlich nicht willkürliches Walten
und
Schalten ohne Regel und Voraussetzung. Improvisieren ist auch nicht,
wie
im Alltag, verlegenes Hinweggleiten über eine Situation, auf die
niemand
vorbereitet war. Improvisieren bedeutet vielmehr auf eine wohlerwogene
Art und Weise harmonische und rhythmische Verhältnisse schaffen,
in
denen die Musiker sich selbst und ihre Zuhörer überraschen
können.
Zwischen Freizügigkeit und Notation, zwischen ungehemmter
Spontaneität
und ausgetüfteltem Arrangement sucht und erfindet die
Improvisation
ihren Weg. Ihr Reiz besteht darin, daß nicht nur der
schließlich
gefundene Weg und die fertige Erfindung wahrnehmbar werden, sondern
auch
der Prozeß des Bahnens und Findens selbst.
Ich fürchte, für Jazzmusiker oder Jazzkenner klingen diese
Sätze
wie Binsenweisheiten. Aber in meinem privaten Kunstmodell nehmen sie
sich
keineswegs wie Selbstverständlichkeiten aus. Ich bin noch nicht
aus
dem Staunen darüber herausgekommen, wie sehr auch das erfindende
Schreiben
seinen Reiz aus dem Umgang mit dem Unberechneten, Ungeplanten gewinnt,
und zwar, wie beim Jazz, aus einem überlegten, behutsamen Umgang
mit
ihm. Denn völlig planlos darf nicht verfahren, wer eine
längere
Geschichte zu Papier bringen will. Die Voraussetzungen müssen
erwogen
sein, die Schauplätze, die Zeit, die handelnden Personen, auch die
Neigung der Handlung, eine Idee davon, wohin das ganze sich wenden
soll.
Ich muß manches wissen, bevor ich eine Geschichte beginnen kann,
aber alles will ich nicht wissen. Und vielleicht erweist sich das, was
ich vorher nicht wußte, nachher als das Wichtigste. Auch hier
also
Improvisation -- nicht Vorplanung bis ins letzte Detail, nicht
Notation,
sondern Herstellung von Bedingungen, in denen sich unverhoffte
Einfälle
einstellen können, in denen ich mit meiner Geschichte mich selbst
- und später hoffentlich auch die Leser - überraschen kann,
so
daß ich bald nicht mehr als unumschränkter Herrscher
über
die Handlung und die handelnden Figuren regiere, sondern, von ihnen
gleichsam
gefangengenommen, dasitze und, während ich schreibe, während
ein Wort das andere gibt, selbst gespannt bin, wie es weitergeht.
Improvisation, so verstanden, scheint mir eine gute
Voraussetzung, wenn
auch gewiß keine Garantie dafür zu sein, daß eine
Geschichte,
an der ich schreibe, jene Eigenschaft gewinnt, die ich ihr wünsche
- Unterhaltsamkeit. Nun gibt es allerdings Leute, die einen solchen
Wunsch,
zumal in Deutschland, für tollkühn halten. Die
Unterhaltsamkeit,
so scheint es, ist hierzulande ein wenig in Verruf geraten. Wo es
unterhaltsam
zugeht, da wittern viele, die sich tiefe Gedanken über die Kunst,
die Musik und die Literatur machen, Seichtigkeit, Untiefe, Anbiederung
an das Publikum, Kommerz, eben das Gegenteil von "Ernst". Und manchmal
haben sie gewiß auch recht. Aber die Angst vor den Untiefen der
Unterhaltsamkeit,
kann, wenn sie die Literatur erfaßt, zu einer Abneigung gegen die
Unterhaltsamkeit schlechthin verklumpen und auf dem Papier zu einer
trotzigen
Sprödigkeit.
Mir hilft an diesem Punkt mein privates Kunstmodell. Der
Jazz, so scheint
mir, ist eine Kunst, die sich, gleichgültig, wie
Programmbürokraten
im Rundfunk und anderswo darüber denken, gegen die Einteilung der
Klang- und Kunstwelt in "U" und "E" sperrt. Der Jazz ist eine
unterhaltsame
Kunst, die sich in dem Wunsch, zu unterhalten, nicht erschöpft,
die
auch in ihrer Unterhaltsamkeit ernst sein kann oder in ihrem Ernst und
der Trauer, die sie auszudrücken vermag, unterhaltsam. Eben Kunst
- spielerischer Ernst, ernstes Spiel, Spiel mit dem Ernst. In meinem
privaten
Kunstmodell ist Unterhaltsamkeit also nicht das Gegenteil von Ernst,
sondern
das Gegenteil von Langeweile und insofern ein notwendiges Ingredienz
der
Kunst, nicht ihr Ziel und letzter Zweck, aber eine Voraussetzung, ohne
die sie nicht gelingt, ein Gegengift gegen das gewöhnliche
Langweilige,
das uns die Zeit stiehlt, indem es sie auf eine paradoxe Weise
kürzt.
Zuerst zieht sich das Langweilige zwar, wie der Name schon sagt, in die
Länge. Geradezu schmerzhaft dehnt es sich ins beinah Endlose. Aber
nachher, wenn es endlich doch zu Ende ist, bleibt nichts oder fast
nichts
zurück. Die Zeit ist vertrieben, totgeschlagen. Über dem
Kurzweiligen
hingegen vergeht uns die Zeit wie im Fluge, und nachher bleibt der
Eindruck,
es habe sich während dieses Fluges in die Spanne einer bestimmten
Zahl von Stunden oder Tagen mehr Zeit gedrängt, als eigentlich
hineinpaßt.
Es verhält sich nämlich so, daß uns das Kurzweilige die
Zeit auf eine unmerkliche Weise lang macht. In gewissem Sinne schenkt
es
uns sogar Zeit, und etwas Kostbareres läßt sich so leicht
nicht
schenken. Das Reisen hält solche Geschenke oft bereit und auch die
Kunst - der improvisierende Jazz zum Beispiel und, wenn sie
glückt,
die unterhaltsame Literatur.
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Zuerst für den
Westdeutschen Rundfunk
1991. Erstdruck in: "Teil meiner selbst". Niederrhein-Lesebuch,
hrsg. von Jochen Arlt u. Irmgard Bernrieder, Pulheim: Rhein Eifel
Mosel-Verlag
1992. Noch einmal in: Neue Rundschau, 1995/2, Frankfurt: S.
Fischer
1995. (c) Copyright Reinhard Kaiser.