Den ersten Computer habe ich mir vor ungefähr elf Jahren gekauft. Einen der schnellsten, die man damals bekommen konnte. AT hieß der Rechnertyp, ein »Zwei-Sechsundachtziger« mit einem Arbeitsspeicher von 512 Kilobyte, einer für damalige Verhältnisse riesigen Festplatte von 20 Megabyte und einer »Hercules-Grafikkarte«; dazu ein monochromer 14-Zoll-Bildschirm, ein Vierundzwanzig-Nadel-Drucker und ein Schreibprogramm, das mir kundige Leute als das ausgereifteste überhaupt empfohlen hatten. Alles zusammen für mehr als zehntausend Mark. Wie ich mir das leisten konnte? Woher ich das Geld nahm? Soll ich es gestehen?
Ich hatte ungefähr ein Jahr vorher für den Fischer-Verlag ein Buch aus dem Englischen übersetzt, das sich innerhalb dieses Jahres rund 120 000 mal verkaufte, und als ich beim Verlag schließlich anfragte, ob denn nicht auch der Übersetzer an dem schönen Erfolg beteiligt werden könnte oder sollte, stieß ich nicht auf taube Ohren. Eine hocherfreuliche Erfahrung in einem Berufszweig, der von denen, die sich seiner Künste bedienen, zumeist eher kurz gehalten wird. Es war nicht irgendein Buch, das ich da übersetzt hatte - es war Neil Postmans großer Essay über die Auswirkungen des Fernsehens und der allgemeinen Bilderflut auf unser Verstandesvermögen und unsere Zivilisation: Amusing Ourselves to Death, lautete der Titel, zu deutsch: Wir amüsieren uns Tode. Den ersten Bildschirm auf meinem Schreibtisch verdanke ich dem Erfolg von Postmans Plädoyer gegen die fortschreitende Durchsetzung unserer Welt mit Bildschirmen.
Dieser »Zwei-Sechsundachtziger« war mir nicht nur teuer – er wurde mir nach kurzer Zeit auch lieb. Fast sechs Jahre lang habe ich mit ihm gearbeitet, und nie hat er mich ernsthaft im Stich gelassen. Einmal versagte das Diskettenlaufwerk. Das ging noch auf Garantie. Und zweimal mußte ich die Lithium-Batterie auswechseln lassen, die sein internes Gedächtnis und die eingebaute Uhr speiste, wenn er abgeschaltet war. Das war normaler Verschleiß. Ansonsten allenfalls kleinere Mißgeschicke, die sich, nachdem sie glücklich überwunden waren, eher als lehrreich, denn lästig erwiesen, aber nie der große Crash, die Katastrophe, das Verschwinden ganzer Texte oder halber Bücher auf Nimmerwiederfinden. Vielleicht habe ich Glück gehabt.
Heute, da nicht nur auf Fernsehmattscheiben, sondern auch auf Computerbildschirmen fortwährend bunte Bilder und Bildchen erscheinen, klingt es fast wie ein Märchen: aber auf dem Bild-Schirm dieses meines ersten Rechners ist während der sechs Jahre, die ich an ihm arbeitete, nie etwas anderes zu sehen gewesen als bernsteinfarbene Schriftzeichen auf schwarzem Grund oder schwarze Schriftzeichen auf bernsteinfarbenem Grund! Einer Grafik noch am nächsten kam die doppelte Linie, die das Texteingabefeld meines Schreibprogramms einrahmte: zu ihrer Darstellung und zur Visualisierung der Buchstaben in gewöhnlicher, kursiver und fetter Schrift mußte die eingebaute Hercules-Karte ihre ganze Kraft aufwenden.
Nach drei Tagen der Unruhe, des Ausprobierens, des Umlernens, begannen die Vorteile des neuen Geräts auf meinem Schreibtisch zu überwiegen. Über der letzten Übersetzung, die ich auf der Schreibmaschine hergestellt hatte, war ich streckenweise in helle Verzweiflung geraten. Ich hatte mehr als üblich an meinem Text zu korrigieren gehabt. Durch zahllose kleine und größere Umstellungen und Abänderungen, die ich handschriftlich in mein Typoskript eintrug, war schließlich ein solches Drunter und Drüber entstanden, daß ich mir die Prosa nicht mehr, ohne zu stocken, selbst vorlesen und also auch nicht hören konnte, ob ihre Melodie und der Rhythmus so klangen, wie ich sie haben wollte. Um Überblick über meinen zerbesserten Text zu gewinnen, mußte ich ihn erst noch einmal abtippen.
Nun tut Abschreiben Texten, die im Entstehen sind, oft sehr gut, und auch heute schreibe ich wichtige Passagen, die mir nicht geglückt erscheinen, regelmäßig noch einmal von einem Blatt ab, auf das ich sie ausgedruckt habe. Aber das Abschreiben, das jene letzte Schreibmaschinenübersetzung erzwang, war über weite Strecken reine Straf- und Sklavenarbeit. Nachher stellte ich fest, was ich vorher schlechterdings nicht mehr hatte erkennen können: daß der Text tatsächlich so war, wie ich ihn haben wollte.
Der immer gewährte klare Blick auf das eben Geschriebene, das bruchlose Einfließen der Korrekturen in den gleichsam flüssig und formbar gehaltenen Text, war für mich von Anfang an der große Vorteil, den der Computer jeder Schreibmaschine voraus hatte. Daß dabei die jeweils verworfenen Formulierungen sogleich untergingen und sich nicht (oder nur auf sehr umständliche Weise) erhalten und wie etwas Durchgestrichenes wiederbeleben ließen, erschien mir anfangs bedenklich. Aber viel verloren habe ich auf diese Weise nicht, und der Vorteil der Übersichtlichkeit überwog diesen Nachteil bei weitem.
Ein anderer, schwerer wiegender Nachteil des Schreibens am Computer kam für mich erst in Sicht, als ich auf der neuen Maschine nicht mehr nur übersetzte, sondern eigene Texte, ein erstes eigenes Buch, Radioessays, Aufsätze für Zeitungen schrieb. Der Übersetzer hat es mit der Inszenierung von fremden Wörtern, Sätzen, Formulierungen auf der Schaubühne seiner eigenen Sprache zu tun. Am Aufbau des Werkes, das er übersetzt, an der Abfolge von Szenen oder Abschnitten und selbst an der Aufteilung des Textes in einzelne Sätze verändert er in der Regel nichts, hält sich vielmehr an den Gang des Originals und den Bau, den es vorgibt.
Ganz anders derjenige, der einen neuen Text konzipiert und schreibt. Er formuliert nicht immer nur einen Satz nach dem anderen, er komponiert Abschnitte von oft größerem Umfang, er baut und baut um - und dies erfordert immer wieder den Blick auf das Ganze. Ein solcher Überblick ist nun bei entstehenden Texten ohnehin viel schwerer zu gewinnen als etwa bei einem entstehenden Gemälde. Aber vom Computer wird der Blick auf das Textganze noch weniger gewährt als von einem Typoskript. Das Mehr an Übersicht und Klarheit, das der Computer auf der Ebene der Sätze, des Textausschnitts von zwanzig oder fünfundzwanzig Zeilen, die auf einem Bildschirm Platz finden, gewährt, das versagt er auf der Ebene der größeren Strukturen von Texten. Ein Gefühl für die Proportionen eines Textes ist tatsächlich viel besser auf dem Papier zu gewinnen, also durch Ausdrucken - und zwar nicht einmaliges, sondern in verschiedenen Stadien der Arbeit oft mehrmaliges Ausdrucken. So türmen sich neben dem Terminal auf meinem elektronischen Schreibtisch nach wie vor die Manuskriptstöße, und nichts ist es mit dem von der Computerindustrie einst verheißenen »papierlosen Büro«. Aber es war auch nicht diese Verheißung gewesen, deretwegen ich mich auf den Computer eingelassen hatte. Gegen Papier hatte ich nichts.
Friedrich Nietzsche dürfte der erste Philosoph gewesen sein, der sich eine Schreibmaschine zulegte - Anfang 1882. Von der Mechanisierung seines Schreibtischs erhoffte er sich Erleichterung beim Briefeschreiben. Sein Sehvermögen hatte stark nachgelassen, und seine Schrift war unleserlich geworden - für ihn selbst und für die Empfänger seiner Briefe. Größere Werke scheint Nietzsche auf dieser Maschine, die sich auch bald als tückisches Objekt erwies und schließlich ganz kaputt ging, nicht geschrieben zu haben, aber in einem Brief an seinen Freund Peter Gast formulierte er eine Einsicht, die über den therapeutischen Einsatz seiner Maschine hinausweist:
»Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.« (Brief an Peter Gast Ende Februar 1882, zit. n. Kittler, S. 293)
In einem Essay über »Dichter und ihre Schreibgeräte« hat Peter Härtling Nietzsches Diktum aufgegriffen und seine »Anwendung« bis in die neuste Zeit fortgezeichnet:
»Das Schreibgerät beeinflußt unbezweifelbar das Schreiben selbst. Wer mit sich sträubenden Kielen schreibt, kommt langsamer und gegen mitunter verdrießliche Widerstände voran. Wer auf einer alten Hermes – wie ich eben – tippt, darf sich auf keinen Fall dem unstatthaft lauten, rhythmischen Gehämmer hingeben. Die Sätze blieben ohne Punkt und Komma. Die Prosa eines mit dem PC arbeitenden Poeten zeichnet sich für Kenner wiederum dadurch aus, daß sie unmerklich die Furcht vor dem Absturz prägt.« (Marbacher Magazin 69/1994, S. 3)
Tatsächlich verändert sich die Arbeit des Schreibenden und sein Schreiben, wenn er von der Schreibmaschine zum Instrumentarium der digitalen »Textverarbeitung« wechselt. Manches wird leichter, anderes verwickelter. Unübersichtlichkeit und Ordnung treten in ein neues Verhältnis zueinander - Beflügelung und Beschwernis ebenfalls.
Daß aber nun alle am Computer erzeugte Prosa, für den Kenner erkennbar, von der Furcht vor dem Absturz geprägt sei, ist wohl eine Übertreibung. Auch jene Schreibenden, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vom Federhalter zur Schreibmaschine überwechselten, sind wohl anfangs gleichsam geduckt, mit eingezogenem Kopf die auf ganz ungewohnte Weise erzeugten Zeilen ihrer Texte entlanggeschlichen - zumal die frühen Schreibmaschinen nicht nur den Blick auf den Buchstaben, der gerade geschrieben wurde, sondern auf den entstehenden Texte selbst verwehrten. (Vgl. Kittler, S. 297ff.) Aber die anfängliche Ängstlichkeit wird mit zunehmender Übung verflogen sein - so wie auch die Ängstlichkeit im Umgang mit dem Computer, wenn man es nur halbwegs richtig anstellt, verfliegt. Ein »Restrisiko« allerdings bleibt. Keine Schreibmaschine hat sich für Stromausfälle oder grobe Bedienungsfehler je durch Verschlucken des bereits Getippten gerächt.
Nun war, wenn ich mich nicht irre, der Crash mit nachfolgender Texteinbuße schon zu der Zeit, als ich auf einem Bildschirm zu schreiben anfing, mehr Mythos denn harte Realität des Computeralltags. Ich vermute, er hat die Phantasie derer, die sich nur in Gedanken mit dem PC beschäftigten, viel stärker strapaziert als die Nerven derer, die sich der Dienste dieses Geräts wirklich bedienten. Gewiß, unwiederbringliche Verluste sind vorgekommen, bei manchen häufiger, bei anderen seltener, auch bei mir. Sie kommen auch heute gelegentlich noch vor, obwohl die Gefahr des Untergangs größerer Datenmengen inzwischen durch verschiedene Vorkehrungen in den Programmen, durch Sicherheitsabfragen, automatisches Abspeichern in regelmäßigen Zeitabständen, Abfalleimer für gelöschte Daten, die selbst noch ein letzter Speicher sind, erheblich eingeschränkt ist. Aber es ist gar nicht allein (und vielleicht nicht einmal in erster Linie) die latente Furcht vor dem Absturz, die die Haltung des Schreibenden und damit auch seinen Stil am PC unmerklich prägen kann. Befangen machen ihn, und zumal, wenn er seine ersten Versuche auf der neuen Tastatur unternimmt, vor allem die kleineren, weniger folgenschweren, dafür aber häufiger auftretenden Fehler und Versehen oder die latente Furcht, sie zu begehen.
Dagegen hilft - oder half mir jedenfalls - Spielen. Spielen mit den Möglichkeiten, die das Schreibprogramm bietet: bei der Wahl verschiedener Schriftarten und Schriftgrade, bei der Gestaltung von Absätzen und Überschriften, beim Umgang mit Seitenzahlen, mit Fußnoten, mit der Suchfunktion. Des Ausprobierens war bei den großen Schreibprogrammen schon damals so bald kein Ende - und heute gilt dies erst recht. Diese Programme sind inzwischen so komplex und in manchen ihrer Bereiche auch so kompliziert, daß außer den Autoren der Anleitungsbücher kaum jemand sie in all ihren Funktionen vollständig beherrscht. Aber vollständige Beherrschung war und ist auch nicht erforderlich, um mit ihnen furchtfrei und unbefangen umzugehen. Wer Serienbriefe nicht verschicken, ein Schlagwortregister nicht automatisch erstellen, Tabellen in seinen Text nicht einbauen will, der braucht sich bei diesen Funktionen seines Programms auch nicht aufzuhalten. Es genügt, wenn er weiß, daß es sie gibt, und sollte er sie wirklich einmal verwenden wollen, kann er sich immer noch kundig machen.
Über dem Spielen und Ausprobieren verging bei mir die Furcht vor fatalen Irrtümern, und mit der Übung wuchs die Zuversicht, ich könnte auftretende Schwierigkeiten auch meistern. Als Lohn der Angst stellte sich Unbeschwertheit ein: eine ungewohnte Leichtigkeit im Umgang mit Wörtern und Sätzen, von der ich mir über der Walze meiner letzten Schreibmaschine nichts hatte träumen lassen.
Leichtigkeit des Schreibens - mehr kann ein Schreibwerkzeug zur Inspiration des Schreibenden wohl nicht beitragen. Aber soviel sollte es beitragen. Jeder, der schreibt, nicht nur der Übersetzer und der Schriftsteller, wünscht sich einen im eigentlichen Sinne des Wortes hemmungs-losen Umgang mit seinem Schreibgerät - einen flüssigen Duktus des Federkiels, der Feder, des Füllfederhalters, ein verläßliches, auf die geringsten Druckveränderungen eingehendes Fortgleiten der Miene des Stifts auf dem Papier, ein unbeschwertes Hüpfen oder Tanzen der Finger auf der Tastatur der Schreibmaschine oder des PC. Der Schreibvorgang, so wünscht sich jeder, der schreibt, möge in Vergessenheit geraten, damit alle Konzentration sich auf das richten kann, was da verfertigt wird. Ein stumpfer Bleistift oder einer mit bröckliger Miene, ein schmierender Füllfederhalter, ein Kugelschreiber kurz vor dem Versiegen, ein fadenscheiniges Farbband - alles das hemmt den Fluß der Gedanken, lähmt den Fortgang der Sätze und das Ausgreifen der Formulierungen.
Nachdem sich Hermann Hesse im Jahre 1908 eine Schreibmaschine gekauft hatte, eine »Smith Premier No.4«, noch mit separaten Tasten für große und kleine Buchstaben, berichtete er dem Schweizer Schriftsteller Jakob Schaffner, der ihm zum Kauf geraten hatte, von seinen ersten Erfahrungen:
»Vor allem das Handgelenk! Früher tat mir nach einem fleißigen Tag die ganze Hand weh. Vielleicht hatte das ja sein Gutes, als ein Zuruf: Nicht zu viel! Aber Schreiben ist nun doch einmal unser Handwerk, und gegen das Zuviel sollte nicht der Schmerz im Handgelenk, sondern der Kopf sich verwahren.« (Zit. nach Marbacher Magazin 69/1994, S. 61)
Hesse hätte sich sicherlich gewundert, wohin es mit den Erleichterungen für das Handgelenk im Laufe dieses Jahrhunderts noch kommen würde - durch Vervollkommnung der mechanischen Schreibmaschine, durch die elektrische Schreibmaschine und schließlich durch den Computer. Inzwischen wird die physische Leichtigkeit des Schreibens anscheinend selbst gelegentlich zum Auslöser körperlicher Beschwernisse. Verschiedene Sehnenentzündungen mit komplizierten medizinischen Namen, die vielschreibenden Händen das Schreiben zur Qual oder sogar ganz unmöglich machen können, werden von manchen Ergonomen darauf zurückgeführt, daß die PC-Tastatur und vor allem die Computermaus dem Druck der Finger zu wenig Widerstand entgegensetzen.
Die physische Leichtigkeit des Schreibens ist nicht alles und war für mich auch nicht der größte Vorzug des elektronischen Schreibgeräts. Viel wichtiger war, wie gesagt, und blieb auch die Leichtigkeit, mit der sich Texte am Bildschirm korrigieren, verändern, verbessern lassen. In einer Computerdatei bleibt Sprache flüssig und formbar. Eine solche Datei ist wie eine Schriftrolle, die sich an jeder Stelle und jeder Zeit ohne viel Umstände ausweiten oder raffen läßt. Ein wahrer Segen beim Formulieren und Komponieren - aber einer, der auch Tücken von ganz besonderer Art in sich birgt.
Da kann man nun also, wenn man den nötigen Schwung und den Mut dazu hat, unbesorgt ins Vorläufige schreiben. Da muß man sich nicht von jedem Tippfehler unterbrechen lassen. Da kann man die Korrektur auf später verschieben. Da kann man sogar die Lösung ungeklärter Probleme, die Beschaffung und Einfügung weiterer Einzelheiten auf später verschieben. Da kann man (wenn einen der Mut noch immer nicht verläßt) selbst das Auffinden der wirklich treffenden Formulierung hinausschieben und im Vertrauen auf künftige Einfälle über das Aussetzen der Inspiration einfach hinwegschreiben. Man kann! Ob man aber auch sollte, steht dahin. Zu viel Vorläufigkeit, zu viele Provisorien, zu viele Löcher, auch wenn sie, technisch gesehen, nachher leicht zu stopfen sein mögen, können einen Text so schlapp und instabil machen, daß er sich durch nachträgliche Operationen nie und nimmer mehr von seiner schwächlichen Konstitution erholt.
Der PC stellt unsere Urteilsfähigkeit in literarischen Dingen vor neue und nicht immer leicht zu lösende Schwierigkeiten. Nicht nur Tippfehler sind am Bildschirm schwerer zu entdecken als auf dem Papier - auch konzeptionelle Mängel oder Defekte im Satzbau sind hier oft noch schlechter erkennbar als im ausgedruckten Text. Und wer sich von der Aura der Perfektion, die den Computer umgibt, blenden läßt, wer seinem Rechner über die physische Erleichterung des Schreibens und des Umgangs mit dem Geschriebenen hinaus einen Beitrag zu dessen qualitativer Vervollkommnung zutraut, der ist zur Leichtfertigkeit schon fast verführt.
Vor etlichen Jahren hat Klaus Wagenbach in einem Gespräch, das ich nicht vergessen habe, der Literatur, die sich mit dem Computer einläßt, eine ziemlich düstere und sich selbst eine ziemlich triste Zukunft prophezeit, insofern er als Verleger von zeitgenössischer Literatur ja der erste Leser und das erste Opfer all dieser leichtfertig auf den Bildschirm geschluderten Elaborate wäre, die sich von nun an mit schlotterndem Inhalt, aber in äußerlich perfekter Druckform über seinen Schreibtisch ergießen würden. Damals hatte ich meinen ersten PC noch nicht lange. Aber die Möglichkeit, Manuskripte nun im Blocksatz, mit Randausgleich, zu drucken, hatte auch ich schon als eine jener Segnungen, die keine waren, identifiziert und verworfen. In diesem Punkt war ich mit Klaus Wagenbach einer Meinung. Aber daß der Computer jeden, der sich seiner bediente, gleichsam automatisch zu einem Schnellschreiber machen sollte, das bezweifelte ich schon deshalb, weil ich zu dieser Sorte von Schreibern nicht gehören wollte, und ich mag es auch heute noch nicht glauben. Wohl geht vom Computer eine Verlockung zur Leicht-Fertigkeit aus, aber doch keine Nötigung. Der Computer kann auch der »Schwer-Fertigkeit« gewaltig Vorschub leisten, indem er das Nochmal- und Nochmallesen begünstigt und zur Überarbeitung der Überarbeitung der Überarbeitung einlädt. Ich könnte mir einen überskrupulösen Super-Perfektionisten vorstellen, für den der Computer zur unentrinnbaren Falle wird. Etwas besser und immer besser machen können und darüber gar nicht mehr fertig werden müssen - auch diese Versuchung kann von einer Maschine ausgehen, die dem Autor das Korrigieren so leicht und das Umherwandern in seinem gedeihenden Text so angenehm macht, daß er nicht mehr damit aufhören mag und darüber womöglich das letzte Ziel all seiner Spaziergänge aus dem Blick verliert, den Ausgang.
Seit elf Jahren habe ich nun meine Übersetzungen auf einem Computer geschrieben, und meine eigenen Bücher sind allesamt am Computer entstanden. Dem ersten hat mein erster Rechner sogar eine Art Anschub gegeben. Ich hatte jahrelang Material zu diesem Buch gesammelt, auch allerlei Formulierungen und einzelne Abschnitte mit der Hand oder der Schreibmaschine zu Papier gebracht. Der Entschluß, alles das auf die Festplatte zu nehmen, versetzte diese Aufzeichnungen in eine Bewegung, die erst wieder zur Ruhe kam, als das Buch, um vieles ergänzt und erweitert, schließlich fertig war. Damals und auch später bei den anderen Büchern habe ich mich immer mal wieder dessen zu vergewissern versucht: daß ich nicht einer jener leicht fertigen Schnellschreiber wäre, die Klaus Wagenbach gemeint hatte. Ich hoffe, es ist mir gelungen. Und daß über meiner Prosa, für den Kenner erkennbar, die Furcht vor dem Absturz nicht hängt, dessen bin ich mir ziemlich sicher.
Was aus jenem ersten Computer geworden ist, der mir so lieb und teuer war? Soll ich es gestehen? Ich habe ihn nicht verkauft und nicht weggegeben, als ich mir nach sechs Jahren schließlich einen neuen, größeren, schnelleren und nach weiteren drei Jahren einen noch größeren, noch schnelleren Rechner zulegte: der letzte hat übrigens am wenigsten von allen gekostet, trotz der allgemeinen Preissteigerungen. Dabei ist sein Arbeitsspeicher 60 mal größer und auf seiner Festplatte lassen sich 125 mal mehr Bytes unterbringen als in jenem ersten AT. Die Entwicklung der Computer ist rasch vor sich gegangen in diesen elf Jahren. Den alten AT habe ich, nachdem er ausgedient hatte, mit einer Plastikplane umhüllt und auf ein abgelegenes Brett in einer langen Bücherwand in meinem Arbeitszimmer gestellt. Er sollte mir als Ersatz dienen, falls der neue Rechner mal versagen würde. Aber dieser Fall trat nicht ein. Schließlich kam mir der Gedanke, ich könnte ihn der Schule meiner Tochter stiften. Es vergingen noch einige Monate, bis ich mich zu diesem Schritt endlich durchgerungen hatte. Aber als ich dann so weit war, beschlich mich die Befürchtung, daß bei den Informatiklehrern angesichts des veralteten Geräts keine rechte Freude aufkommen würde, vielleicht überhaupt keine Freude. Die Peinlichkeit einer verlegenen Annahme oder einer dankenden Ablehnung wollte ich nicht riskieren. Also ließ ich ihn weitere Jahre auf seinem Regalbrett stehen - bis letzten November. Da holte ich ihn in einer Anwandlung von Nostalgie hervor. Ich wollte noch einmal die bernsteinfarbene Kargheit seines Bildschirmmodus auskosten und sie mit dem fensterreichen, farbenfrohen Grafikbarock vergleichen, das auf den Bildschirmen von heute, auch auf meinem, zur unausweichlichen Normalität geworden ist. Ich wuchtete das schwere Gerät in seinem gepanzerten Gehäuse auf einen Tisch, schloß Bildschirm und Tastatur an, sorgte für Stromzufuhr und schaltete ein: ein Zucken lief über den Bildschirm, ein kurzes Wetterleuchten, dann war da nur noch ein Punkt in der Mitte, und nichts bewegte sich mehr. Keine Taste löste irgend etwas aus. Plötzlich wußte ich, was geschehen war: Die Lithiumbatterie, aus der sich das interne Gedächtnis dieses Computers speiste, hatte sich erschöpft: mein persönliches Elektronengehirn hatte sich selbst vergessen, konnte sich auf seinen Festplattentyp, die Größe seines Arbeitsspeichers und all die anderern Ausgangsgrößen seiner selbst, nicht besinnen und erst recht nicht auf das aktuelle Datum und die Uhrzeit. Eine neue Batterie, hätte um die sechzig Mark gekostet, sofern ich den passenden Typ überhaupt noch bekommen hätte. Enttäuscht räumte ich den Rechner zurück in sein Regal. Er war wirklich sehr alt geworden.
Ein paar Wochen später, während ich wieder einmal einen dieser verzweifelten Versuche unternahm, der Massen von Büchern, die sich, teils willkommen, teils unwillkommen, im Laufe der Zeit einfinden und anlagern, durch Umräumen und Aussortieren Herr zu werden, geriet ich an das Regalbrett auf dem seit nun mehr als fünf Jahren der AT nichts weiter tat, als Platz in Anspruch zu nehmen: volle 80 Zentimeter Bücherregal, Platz für zwölf gewichtige Lexikonbände oder vierzig gewöhnliche Bücher unterschiedlicher Dicke. Ich brauche diesen Platz, dachte ich, ich brauche ihn dringend, und den Ehrgeiz, ein technisches Museum zu eröffnen, habe ich nicht.
Um es kurz zu machen - ich lud den schweren Kasten samt Bildschirm in mein Auto, ließ auch die Tastatur und die Maus nicht zurück und fuhr zu einer Abgabestelle für Sondermüll außerhalb der Stadt. Unterwegs überlegte ich, ob ich nicht doch auch die Gebrauchsanleitung und die Handbücher hätte mitnehmen sollen, statt sie in die Papiermülltonne zu werfen. Falls in letzter Minute - auf dem Müllplatz - doch noch jemand auftauchte, der sich seiner annähme, würden ihm die Bücher nützlich sein.
Ich fuhr nicht zurück. Der Aufseher trat aus seinem Aufseherhäuschen. Was ich ihm brachte, beeindruckte ihn nicht. Er deutete auf eine freie Stelle zwischen ein paar alten Fernsehern. Dort stellte ich ihn ab, hochkant, obenauf die Tastatur und die Maus, beide sorgfältig mit dem eigenen Kabel umwickelt, daneben den Bildschirm. Bevor ich nach Hause zurückfuhr, drückte ich dem Aufseher fünf Mark in die Hand. Es war der Tag vor Silvester, und die Müllabfuhr hatte aus irgendeinem Grund in diesem Jahr bei uns nicht gesammelt. Aber eigentlich wollte ich den Mann vom Sondermüll mit meinem Trinkgeldopfer, ohne viel Worte zu machen, darum bitten, meinen alten, meinen ersten word processor möglichst sanft in den Untergang zu geleiten. Immerhin war er für mich das schon gewesen, was nach der Prophezeiung Dieter E. Zimmers, eines klugen Beobachters der Veränderungen auf den elektronischen Schreibtischen dieser Welt, der Computer erst noch werden wird: ein »zivilisierter Verbündeter« der Schreibenden und der Schriftkultur.
Verwendete Literatur