In Gegenwart alter Bären
An dem Abend, als der »Rundgang« in den
Räumen der
Akademie eröffnet wurde, hielt ich mich lange in der Nähe
meiner
eigenen Bilder auf. Ich wollte mir durch verstohlene Beobachtung des
Publikums
beweisen, daß eine starke Wirkung von ihnen ausging. Aber ich
hatte
für meine beiden großen Aquarelle aus der Eos-Serie keinen
guten
Platz gefunden. Selten verirrte sich ein Besucher bis an das Ende des
Ganges
im ersten Stock, und keiner von ihnen hatte meinen Bildern bisher mehr
als einen Blick geschenkt. Nur ein paar Studienkollegen sahen genauer
hin.
Doch auch sie sagten nichts. Außerdem brachten sie Nils mit, und
Nils blieb. Er leistete mir Gesellschaft. Während es im
Erdgeschoß
zwischen den Werken der Kunst und ihren Freunden immer enger und lauter
wurde, nutzte er die Ruhe im Obergeschoß und vertrat Thesen. Seit
einiger Zeit versuchte er mit allen Mitteln, meine Aufmerksamkeit zu
gewinnen.
Aber wäre Nils nicht gewesen, ich hätte
Sprickmann
wahrscheinlich nie kennengelernt. Ich hatte ihn nicht kommen sehen. Er
stand plötzlich da, auf den Zehenspitzen wippend, und betrachtete
meine Bilder. Eine tropische Erscheinung - die beiden oberen
Knöpfe
seines Hemdes offen, die Hände in den Hosentaschen eines hellen
Anzugs.
Er beugte sich nach vorn, kniff die Augen zusammen und studierte die
Schildchen
neben den beiden Bildern an der Wand. Dunkles Gekräusel trat aus
seinem
Hemdausschnitt hervor, dem Kinn und dem Vollbart entgegen.
Nils kannte Sprickmann - woher, das wußte ich nicht.
Er stellte mich ihm vor. Sprickmann zückte seine rechte Hand wie
eine
Pistole und nannte mir seinen Namen. Aber ich verstand ihn nicht -
nicht
in diesem Augenblick. Dafür hielt ich seine Hand ein paar Sekunden
länger, als es bei der Begrüßung eines Fremden
üblich
ist. Zuletzt hielt ich sie sogar mit beiden Händen und suchte
vergeblich
nach Worten, mit denen ich ihn dazu bringen konnte, seinen Namen zu
wiederholen.
Immerhin war er an diesem Abend der erste Fremde, der sich für
meine
Bilder interessierte, und würde womöglich der einzige
bleiben.
Er nickte mir zu: »Gut! Sehr - gut!« Mehr sagte er nicht.
Mehr
konnte er auch nicht sagen, denn schon erkundigte sich Nils mit
demonstrativem
Eifer nach seinen Bären. Sprickmann ließ sich durch den
Spott
in Nils' Stimme nicht beirren.
»Tja, die Bären«, sagte er, und seine
kleinen, schwarzen Augen funkelten. »In drei Tagen fliege ich
nach
Amerika. In Baltimore werden zwei der legendären Bären
versteigert,
die im Jahre 1903 die Hochzeitstafel von Theodore Roosevelts Tochter
schmückten.
Verstehen Sie? Nicht einfach Bären dieses Typs - die findet man
hin
und wieder auch in Deutschland, Steiff-Bären der ersten Generation
-, sondern zwei Exemplare, die wirklich dabei waren, als der Teddy
seinen
Namen bekam. Vielleicht habe ich ja diesmal Glück.«
»Haben Sie es denn schon einmal probiert?«
fragte Nils.
»Schon zweimal«, erwiderte Sprickmann.
Ich mußte lachen und sagte zu ihm, er wolle uns
wohl einen ganz besonders großen Bären aufbinden.
»Aber mitnichten, meine Liebe! Ich bin Sammler und
zum Glück nicht ganz mittellos. Also sammele ich nicht nur Bilder,
sondern auch Bären, Bären sogar in erster Linie - um genau zu
sein: Bären bis 1950 und Bilder ab 1950. Für einen alten
Bären
würde ich jeden frühen Beuys hergeben - obwohl ich Beuys sehr
schätze, und gerade die frühen Zeichnungen!«
Er klopfte Nils auf die Schulter. Mir hielt er noch einmal
seine Hand hin. Ich nahm sie. Die Haargewölle auf seinen kurzen,
kräftigen
Fingern waren wie aus feinem, federndem Draht.
»Viel Glück in Baltimore«, sagte ich.
»Das kann ich brauchen. Der dunkle Ruf der
Bären
von jenseits des Atlantik übertönt die schwachen Schreie der
Kunst. Trotzdem viel Erfolg - auch Ihnen, Eos! Adieu!«
»Was für ein Schwätzer!« meinte Nils,
als Sprickmann
gegangen war, und fuhr fort, mir seine These von der Ohnmacht der
Bilder
darzulegen. »Bilder und Gebilde«, so behauptete Nils,
»sind
von der gleichen resignativen Kraftlosigkeit angefressen - anders als
die
Teddybären, würde Sprickmann jetzt sagen! Du
müßtest
ihn hören, wenn er seine Theorien vertritt!«
Diesmal verstand ich den Namen und merkte ihn mir.
Als Nils endlich von mir abließ, begann ich durch
die Säle und Flure zu wandern. Sprickmann konnte ich nirgendwo
entdecken.
Das Sekretariat diente nicht als Ausstellungsraum. Dennoch war es
unverschlossen.
Auf einem der beiden Schreibtische lag ein Düsseldorfer
Telefonbuch.
Sprickmanns Name fehlte darin.
In dieser Nacht fand ich wenig Schlaf. Immer wieder streckte
mir Sprickmann
seine dunkle Hand entgegen, neigte den Kopf ein wenig nach vorn und
nannte
seinen Namen, den ich jedesmal nicht verstand. Auf den Namen kam es
auch
gar nicht an, solange ich seine plötzlich vorschnellende Hand
spürte.
Ich begriff plötzlich, daß die federnden Gewölle auf
seinen
Fingern nur die Ausläufer eines zusammenhängenden Haarkleides
waren, das, von den Fußknöcheln aufwärts, seinen ganzen
Leib bedeckte, nicht überall gleich dicht und gleich dunkel, aber
zusammenhängend. Sprickmann, oh, Sprickmann, dachte ich, und
atmete
tief: Wenn ich bloß Björn noch hätte! Björn
Björnsson,
den Familienbär in der zweiten Generation. Den großen, alten
Björn mit den vielen kahlen Stellen und den hübschen
Kleidern,
die ich ihm früher im Handarbeitsunterricht genäht hatte. Er
hätte mir den Weg zu Sprickmann gebahnt.
Aber Björn gab es nicht mehr. Bei meinem ersten Umzug
in Deutschland hatte ich ihn vergessen. Ich hatte ihn in dem dunklen
Kleiderschrank
meines möblierten Zimmers in Gerresheim sitzenlassen und war auf
die
andere Seite des Rheins, nach Oberkassel gezogen, in eine Dachwohnung.
Es dauerte ein paar Wochen, bis mir auffiel, daß er nicht da war.
Ich fuhr nach Gerresheim, um ihn heimzuholen. Die Vermieterin
begrüßte
mich freundlich. Doch als ich sie nach Björn fragte, wurde sie
sonderbar
unwirsch. Ob sie ihn ihrer kleinen Tochter zum Spielen gegeben hatte?
Ob
sie ihn weggeworfen hatte? Ich machte ihr keine Szene. Ich brach auch
nicht
in Tränen aus. Ich war älter geworden, und Björn war
dahin,
unwiederbringlich. Bei der Annäherung an Sprickmann konnte er mir
keinen Beistand leisten.
Am nächsten Morgen rief ich Nils an und fragte ihn, ob
Sprickmann
denn überhaupt in Düsseldorf wohne. Im Telefonbuch stehe er
nicht.
»Warum willst du das wissen?« wollte Nils
wissen.
»Nun sag schon, wo wohnt er?«
Sprickmann wohnte in Neuss, und nach einigem Hin und Her
mit der Auskunft wegen eines zweiten Sprickmann, der ebenfalls in Neuss
wohnte, hatte ich ihn endlich am Telefon. Ich dankte ihm für das
Interesse,
das er meinen Bildern entgegengebracht habe. Ich sagte das, was ich mir
zurechtgelegt hatte, und merkte bald, daß ich ins Leere sprach.
Es
fiel ihm schwer, sich an mich und meine Bilder zu erinnern.
»Ich heiße Marie Magnusson, und ich male in
den Farben der Morgenröte«, erklärte ich ihm.
»Blaßblau,
Blaugrau, Rosa, Gelb, Orange, wissen Sie noch?«
»Aurora!«
Ich war erleichtert. »Ja, Eos römisch drei
und römisch vier. Ich würde Ihnen ... wenn Sie mögen,
gern
mehr von mir zeigen ... mehr Bilder, meine ich.«
»Noch mehr Bilder? - Wozu? Vielleicht im
nächsten
Jahr. Ich sehe mir den Rundgang in jedem Semster an. Also,
bis...«
»Warten Sie! Legen Sie nicht auf - bitte!«
Ich holte tief Luft. »Diese beiden Bilder aus der Eos-Serie, die
Ihnen so gut gefielen - es gibt davon noch mehr, bessere!«
»Warum haben Sie sie dann nicht ausgestellt?«
»Sie hängen bei mir zu Hause. Ich würde
sie Ihnen gern zeigen.«
»Bei Ihnen zu Hause?«
»Ja ... und einen Kaffee hättte ich auch
anzubieten.«
Es entstand eine Pause.
»Sind Sie noch da?« fragte ich
schließlich.
»Nein«, erwiderte er. »Das heißt,
doch, ja, natürlich bin ich noch da. Aber nicht mehr lange... Nein
... ich glaube nicht, daß es viel Sinn hätte, zu Ihnen zu
kommen.
Sie sind sehr freundlich, Marie - ich darf Sie doch Marie nennen? -,
aber
die Zeit, verstehen Sie, die Zeit ist wirklich knapp. Übermorgen
fliege
ich nach Amerika. Leben Sie wohl. Vielleicht ein andermal.«
»Aber Bären«, sagte ich und hoffte,
daß
ihm der schrille, verzweifelte Ton in meiner Stimme nicht auffiel,
»Bären
gibt es doch nicht nur in Baltimore. Sogar bei mir gibt es einen zu
sehen!«
»Bären«, entgegnete Sprickmann sanft,
»gibt es überall zu sehen, Marie. Bären nach 1950
interessieren
mich aber nicht, verstehen Sie?«
»Ich glaube, mein Bär ist alt.«
»Alt? ... wirklich alt? ... wie alt?«
»Das würde ich gern Sie fragen.«
»Dazu müßte ich ihn sehen.«
»Eben!«
»Aber ich habe Ihnen doch gesagt...« Er brach
ab und überlegte: »Was nun? Was tun - was lassen?
Hmhmhmhm...
Ein Bär vor 1950, sagen Sie?«
»Ganz bestimmt!«
Ein fernes Klingeln drang durch das Telefon bis an mein
Ohr.
»Da ist jemand an der Haustür«, sagte
Sprickmann. »Ich muß öffnen. Haben Sie noch einen
Augenblick
Zeit? Ich bin gleich zurück. Legen Sie nicht auf - bitte, nicht
auflegen!«
Ich hörte, wie er hastig davonging. Ich hörte,
wie er hastig zurückkehrte. Wir verabredeten uns für den
nächsten
Tag - bei mir.
Pünktlich um halb vier stand er vor der Tür meiner
Dachwohnung.
Sein Schnaufen klang vorwurfsvoll.
»Vor die Bären ... hat der liebe Gott ... die
Treppen gesetzt.«
»Dafür ist die Aussicht hier oben auch
besonders
schön«, sagte ich. »Man sieht von hieraus auch die
Akademie.«
Aber Sprickmann wollte nicht zu mir ans Fenster kommen. Er blieb mitten
im Zimmer stehen und sah sich um.
»Wie trinken Sie Ihren Kaffee?« fragte ich
ihn.
»Danke, keinen Kaffee«, sagte er und fast
im selben Atemzug: »Wo ist er?«
»Hier.«
Ich ging zum Bücherregal hinüber, wo ich ein
Photo bereitgelegt hatte. Ich zeigte es Sprickmann, und während er
es betrachtete, blieb ich neben ihm stehen.
»Der da«, sagte ich, »das ist
Björn.
Das bin ich. Und das ist mein Vater.«
Es war die einzige Aufnahme von Björn, die ich
besaß.
Mein Vater trug mich und ich Björn auf dem Arm. Meine Mutter hatte
uns drei unter dem Wildkirschenbaum im Garten unseres Sommerhauses bei
Västervik photographiert. Ich war ungefähr fünf Jahre
alt.
Mein Bruder war noch nicht geboren. Und meine Eltern vertrugen sich
noch.
Am Morgen hatte ich lange nach dem Bild gesucht, und ich war froh
gewesen,
als ich es endlich gefunden hatte. Aber jetzt, als ich es zusammen mit
Sprickmann betrachtete, machte es mich traurig. Ich sah meinen Vater,
wie
er lachend meiner Mutter etwas zurief. Ich sah diesen Kirschbaum mit
den
kleinen dunklen Früchten daran und den vielen ausgespuckten Kernen
auf dem Boden darunter. Ich sah sogar meine Mutter, obwohl sie gar
nicht
auf dem Bild war. Ich sah, wie sie mit der Kamera kämpfte und ganz
verkrampft und verrenkt dastand, um nur ja nicht zu wackeln. So war es
immer gewesen, wenn mein Vater sagte: Nimm du doch mal den Apparat!
Sonst
komme ich nie aufs Bild. Jetzt lebte mein Vater mit einer anderen Frau
und meiner Mutter mit einem anderen Mann zusammen. Und Björn -
Björn
war verschwunden.
»Deutschland, um 1930«, sagte Sprickmann,
nachdem er noch einmal einen Blick aus nächster Nähe auf das
Photo geworfen hatte. »Sie haben recht. Ein alter
Bär!«
»1930 könnte stimmen«, sagte ich.
»Meine
Mutter hat ihn als Kind bekommen. Später hat sie ihn mir
geschenkt.«
»Dieser Bär ist heute ein kleines Vermögen
wert.«
»Er ist aber sehr mitgenommen, wissen Sie. Meine
Mutter hat ihn lange gehabt, und ich auch.«
»Das ist die Patina der Zuneigung. Die gehört
dazu.«
»Außerdem hat er zwei große
Narben.«
»Haben Sie ihn mit einer Schere traktiert?«
»Nein. Als ich sechs war, ist ihm ein Unglück
zugestoßen. Er ist aus einem fahrenden Zug gefallen. Ich wollte
ihm
die Landschaft von Schonen zeigen. Wir lehnten uns zu weit in den
Fahrtwind
hinaus. Da passierte es. Ich schrie. Mein Vater kam. Er zog die
Notbremse
nicht, obwohl ich ihn anflehte, es zu tun.«
»Aber es gibt ihn doch noch? - ich meine, diesen
Bären?« fragte Sprickmann.
»Oh, ja. Nur keine Bange! Aber beinahe - beinahe
hätte ich ihn damals für immer verloren. Ich heulte und
jammerte
und wollte ihm nachspringen. Mein Vater verstand, daß es mir
ernst
war. Er versprach mir, nach Björn zu suchen und nicht ohne ihn
zurückzukommen.
Er hat sein Versprechen gehalten. Er merkte sich den Namen der
nächsten
Station, durch die unser Zug fuhr, und zwei Tage später wanderte
er
von dort an der Eisenbahnstrecke entlang zurück, bis er Björn
gefunden hatte.«
Benno Sprickmann atmete auf.
»Mein Vater kam gerade noch rechtzeitig«,
fuhr ich fort. »Mit knapper Not konnte er Björn einem jungen
Braunbären entreißen, der ihn davonschleppen wollte. Damals
drangen die Bären, junge und alte, gelegentlich noch aus den hohen
Bergen bis tief ins Flachland vor, wissen Sie.«
»Was Sie nicht sagen!« Sprickmann machte ein
ungläubiges Gesicht und studierte noch einmal das Photo.
»Nein«, erklärte ich ihm, »die
Tatzenspuren des wirklichen Bären werden Sie auf diesem Bild nicht
finden. Es ist vor dem Unglück aufgenommen. Aus zwei tiefen Rissen
quoll die Holzwolle. Es sah grauenhaft aus, bis meine Mutter alles mit
Nadel und Faden zunähte. Seither ist er sehr scheu.«
»Verständlich«, sagte Sprickmann und
lachte.
»Sie lachen«, erwiderte ich. »Aber wenn
Sie sich mit Bären auskennen, dann wissen Sie auch, daß ihre
Scheu unseren Respekt verdient.«
»Selbstverständlich«, sagte Sprickmann.
»Gerade in vorgerücktem Alter können sie ziemlich
kompliziert
werden. Und ob man sie am Ende zu fassen bekommt, hängt oft von
den
seltsamsten Unwägbarkeiten ab. Bei einer solchen Auktion zum
Beispiel
wie übermorgen in Baltimore kommt es nicht bloß darauf an,
daß
man das nötige Kleingeld in der Tasche hat. Die Bären wollen
nicht immer, wie wir wollen, nicht wahr?«
»Ja. Björn ist auch so ein Fall. Er sitzt in
seinem Kleiderschrank und will sich nicht stören lassen.«
»Oh, das kenne ich!« sagte Sprickmann.
»Ich
weiß, wovon Sie sprechen. Alte Bären sind wie Götter -
unnahbar.«
»Unnahbar ist das richtige Wort«, sagte ich.
»Marie, Sie machen mich wirklich neugierig,«
erwiderte Sprickmann und sah sich im Zimmer um. »Aber Sie
haben
ja gar keinen Kleiderschrank.«
»Er steht nebenan, im Schlafzimmer.«
Sprickmann atmete auf.
»Der Schrank ist sein Tempel. Dort thront er und
will unsichtbar bleiben.«
»Tja, wie die Götter so sind - umgeben von
Zauber und Geheimnis.«
Ich nickte heftig: »Und durchdrungen von
Eigensinn!«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie haben es eben selbst gesagt. Die Bären
wollen nicht immer, wie wir wollen.«
»Ja ... und?«
Ich schluckte.
»Es tut mir leid, aber irgendwann muß ich
es Ihnen ja sagen. Björn ist ein besonders eigensinniger Bär.
Er will Sie ... auf keinen Fall sehen.«
Sprickmann lachte: »Was sagen Sie da?«
»Ich glaube, er wittert Unheil.«
»Na, die Angst werden wir ihm schon nehmen. Kaufen
will ich ihn doch gar nicht, nur ansehen und - schätzen.«
»Das habe ich ihm auch gesagt.«
»Gesagt?« Sprickmann sah mich mit großen
Augen an. »Ihm?«
»Ich habe heute morgen Fürsprache für
Sie eingelegt, mehrmals sogar. Ich bin nicht durchgedrungen...«
»Fürsprache? ... bei einem Teddybär? Aber
liebe Marie! Er ist und bleibt ein Stofftier. Das dürfen Sie nicht
vergessen!«
»Trotzdem!« sagte ich. »Es tut mir so
leid für Sie.«
Sprickmann öffnete den Mund, als wollte er etwas
sagen. Aber er brachte kein Wort heraus. Er war verstört und in
diesem
Augenblick besonders liebenswürdig.
»Hoffentlich«, fuhr ich fort und ergriff seine
Hände, »sind Sie jetzt nicht böse auf mich. Sie haben
den
weiten Weg hierher, die vielen Treppen, auf sich genommen, um ihn zu
sehen.
Ich habe mich so darauf gefreut, Sie zu sehen. Und nun hat Björn
uns
alles verdorben. Darf ich Ihnen wenigstens meine Bilder zeigen? Ich
weiß,
sie sind ein schwacher Trost.«
Er machte sich von mir los.
»Hören Sie, Marie. Bitte! Denken Sie jetzt
mal für einen Augenblick nicht an Ihre Malerei! Lassen Sie uns
ernsthaft
reden. Wir müssen diese Verwirrung - dieses
Mißverständnis
klären. Ich glaube, ich verstehe, was Sie mir zu sagen versuchen.
Sie wollen ihn mir nicht zeigen. Aus irgendeinem Grund wollen Sie ihn
mir
nicht zeigen. Warum, weiß ich nicht. Aber ich verstehe es. Irgend
etwas hindert Sie daran, den Schrank zu öffnen und ihn
herauszuholen.«
Ich nickte. »Ja, da ist etwas.«
»Wollen Sie mir nicht sagen, was es ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vielleicht können wir gemeinsam ... mit
vereinten
Kräften - den Schrank öffnen und nachsehen, ob Ihr Bär
tatsächlich
so eigensinnig ist, wie Sie glauben.«
»Unmöglich«, sagte ich.
»Was ist schon unmöglich!« Er
überlegte:
»Es gibt da eine Geschichte, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Erzählen Sie sie mir!«
»Ich kann nicht.«
»Sie wäre immerhin eine Entschädigung
dafür, daß ich Ihren Bären nun vielleicht doch nicht zu
sehen bekomme.«
Ich war, während wir miteinander sprachen,
an den Wänden meines Zimmers entlanggeschlendert, und er war mir
im
Abstand von einem Schritt gefolgt, vorbei an den Bildern, die ich ihm
hatte
zeigen wollen. Jetzt standen wir vor der Tür zu meinem
Schlafzimmer.
Ich öffnete sie, so als wollte ich ihm einen kurzen Blick
gewähren,
ohne ihn hineinzulassen.An der gegenüberliegenden Wand, neben dem
Fenster stand der Kleiderschrank.
»Ist er das?« fragte Sprickmann.
Ich nickte.
»Darf ich?«
Ich ließ ihn eintreten und folgte ihm.
Er war vor dem Schrank stehengeblieben. Er betrachtete
ihn ausgiebig und, wie mir schien, ein wenig mißtrauisch. Ich
erschrak,
als er plötzlich zwei Schritte vorwärts tat. Aber er trat ans
Fenster und sah hinaus.
»Marie«, sagte er, »Sie müssen
sich einen Ruck geben! Entweder Sie öffnen jetzt diesen Schrank
oder
Sie erzählen mir Ihre Geschichte, sonst gehe ich!«
»Also gut«, sagte ich. »Ich will es
versuchen.«
Ich setzte mich auf mein Bett, schob die gefalteten
Hände
zwischen meine Knie und überlegte mit gesenktem Kopf.
Dann begann ich zu erzählen.
»Es geschah zu Beginn meines ersten Semesters in
Deutschland.
Er war nicht der erste Mann, in den ich mich im Handumdrehen heftig
verliebte.
Aber er war der erste, bei dem ich, kaum daß ich ihn in der
Zeichenklasse
zum erstenmal erblickt hatte, nur noch ans Bett dachte. Nicht an
irgendein
Bett. Sondern an mein Bett. An das Bett in meinem möblierten
Zimmer
in Gerresheim, wo ich damals wohnte. Es dauerte ein paar Tage, bis er
begriff,
was ich von ihm wollte. Und meine Liebe wuchs mit jedem dieser Tage.
Zuletzt
war es ein einziger, aufmerksamer Blick, eines Morgens in der Cafeteria
der Akademie, mit dem er sich vergewisserte, daß ich wirklich
meinte,
was ich laut nicht gesagt hatte. Danach erzählte ich ihm von
meinem
Bett. Aber meine Vermieterin duldete keine Besucher, tagsüber
nicht
und nachts erst recht nicht, und sie war fast immer zu Hause. Wir
mußten
einige Tage warten, bis sich eine Gelegenheit ergab, und noch immer
wuchs
meine Liebe. Eines Nachmittags jedoch hatte meine Vermieterin etwas in
der Stadt zu erledigen. Ich wußte, wir würden ungestört
sein.
Wie ähnlich er und Björn einander waren, fiel
mir erst auf, als ich in meinem Zimmer zwischen ihnen stand. Ich
erschrak.
Björn saß auf einem Regal, das über dem Kopfende meines
Bettes an der Wand hing. Er ließ ein Bein baumeln, und es kam mir
so vor, als würde er uns ziemlich erstaunt entgegenblicken. Der
Mann,
nach dessen Umarmung ich mich so sehr sehnte, bemerkte ihn
zunächst
nicht. Er sah sich nur flüchtig um. Ich beobachtete ihn, und bald
wurde mir ein wenig bange, weil mir immer mehr Ähnlichkeiten
zwischen
ihm und Björn auffielen. Die dunklen, unergründlichen und
dennoch
nicht tiefen Augen, ein leicht aufwärts weisender Zug um die Nase,
vor allem aber die pelzige Erscheinung: der Vollbart, die Dickichte auf
seinen Fingerknöcheln und seinen Unterarmen und die kleinen
Büschel,
die aus seinen Ohren und Nasenlöchern hervorlugten. Aber die
Ähnlichkeit
ging noch weiter. Er trug einen kleinen Ring aus goldenem Draht im Ohr.
Wie Björn seinen Knopf. Und er hieß Urs. Er war allerdings
kein
Schweizer. Er kam aus Westfalen. Aus der Gegend von Münster. Was
mich
beunruhigte, war der Gedanke, daß es mich womöglich deshalb
so heftig nach ihm verlangte, weil er Björn so ähnelte. Doch
dann fiel mir ein, daß äußerliche
Übereinstimmungen
oft Zuneigung erzeugen und daß daran eigentlich nichts
Ungewöhnliches
ist.
Ich wollte Urs meine Arme um den Hals schlingen und die
Gedanken verscheuchen, die an meiner plötzlichen Befangenheit
schuld
waren. Doch als ich mich zu ihm umdrehte, blickte ich in ein finsteres
Gesicht. Mißmutig, fast wütend starrte Urs zu Björn
hinüber,
der seinerseits seelenruhig von seinem hohen Sitz auf ihn herabblickte.
Ich wußte sofort, was geschehen war. Auch Urs hatte die
Ähnlichkeit
bemerkt. Bei ihm weckte sie jedoch keine Sympathie, sondern Abneigung,
Abneigung auf den ersten Blick. Er sagte jedoch nichts. Wir fingen an,
uns zu küssen und zu umarmen. Wir zogen uns aus. Wir legten uns
auf
mein Bett und hatten den Bären bald vergessen. Nur einmal schlug
ich
die Augen auf und sah an Urs' rechtem Ohr, dem unberingten, vorbei,
daß
sich Björn auf dem Regal über uns ein wenig nach vorn gebeugt
hatte und mit undruchdringlicher Miene zu mir herunterblickte. Urs
genoß
seine Kraft und seine Ausdauer. Unsere Bewegungen wurden ausladender.
Von
fern kündigte sich das Beben an. Auch die Umgebung geriet in
Aufruhr.
Die Erschütterungen wurden heftiger, sie drangen bis zu Björn
hinauf und versetzten ihn in ein leichtes Schwanken. Ich schloß
die
Augen. War wieder ganz bei Urs. Und als Björn auf uns
stürzte,
erschrak ich genauso heftig wie Urs. Ich erholte mich nur etwas
schneller
von dem Schrecken, denn für mich war das Röhren, das
Björn
von sich gab, ein vertrautes Geräusch. Ich begriff sofort,
daß
Björn auf den Rücken von Urs gefallen sein mußte und
dort
liegengeblieben war. Wenn man Björn aus der Senkrechten in die
Horizontale
brachte, stieß er immer ein langgezogenes Röhren aus. Es
sollte
das Brummen sein. Aber es war ein Röhren. Urs lag schwer auf mir.
Die plötzliche Störung hatte ihn mit einem Schlag ermattet.
Endlich
raffte er sich auf, griff hinter sich und schleuderte Björn quer
durch
das Zimmer. Mit einem nicht enden wollenden Röhren blieb der
Bär
vor der Wand gegenüber meinem Bett auf dem Fußboden liegen.
Urs sandte ihm einen Fluch nach. Auch ich ärgerte mich über
Björn.
Er hatte sich wirklich im ungünstigsten Augenblick auf uns
gestürzt.
Dennoch war er mir auch in diesem Moment lieb und teuer. Ich konnte es
nicht ertragen, ihn dort hilflos auf dem Boden liegen zu sehen. Mir
fiel
ein, wie er vor vielen Jahren in Schonen aus dem fahrenden Zug gefallen
war. Ich mußte Björn in Sicherheit bringen. Ich
schlüpfte
aus dem Bett und holte ihn zurück.
Ich schob ihn nicht wieder auf das Regal. Mein Bett stand
in einer Ecke des Zimmers, und in diese Ecke am Kopfende des Bettes
setzte
ich Björn, so daß er nun von zwei Mauern gestützt
wurde.
Solange er saß, war er immer ganz still. Ich schmiegte mich
wieder
an Urs. Aber dort anzuknüpfen, wo der Bär uns unterbrochen
hatte,
war nicht möglich. Und von vorn zu beginnen, erwies sich als nicht
leicht. Während Urs sich über mich beugte, wanderte sein
Blick
immer wieder zu Björn hinüber. >Muß dieses Tier uns
unbedingt
zusehen?< fragte er. Ich erklärte ihm, Björns Augen seien
aus Glas. Es überzeugte ihn nicht, und ich hatte tatsächlich
nicht die ganze Wahrheit gesagt. Mir machte es nämlich, anders als
Urs, nichts aus, wenn Björn neben uns saß. Ich fühlte
mich
unter seinem glasigen Blick sogar wohl. Für mich lag ein Reiz
darin,
diesen schweigenden Beobachter in der Nähe zu wissen. Aber bald
fing
ich an zu bedauern, daß ich ihn zu uns gesetzt hatte. Ich hatte
nicht
erwartet, daß die Gegenwart eines Bären den Mann in meinem
Bett
so nachhaltig stören könnte. Immer häufiger glitten
seine
Augen zu dem Bären hinüber. Immer seltener erreichte seine
Aufmerksamkeit
mich. Schließlich fragte er: >Warum trägt dieser Bär
eigentlich
eine Hose?< Ich erzählte ihm, daß ich die Sachen für
Björn in der Schulzeit genäht hatte, als ich ungefähr
vierzehn
gewesen war. Hose, Hemd, Jacke, sogar Unterwäsche.
>Unterwäsche?<
Urs fuhr hoch, und als er wieder zu Björn hinübersah,
erstarrte
er vollends. >Marie, sieh doch!< flüsterte er. Ich bog den
Kopf
nach hinten, konnte aber nicht erkennen, was ihn so irritierte. Hastig
rückte er zur Seite, so daß ich mich umdrehen konnte, und
jetzt
sah ich, was er meinte.
Es war da eine Aufbauschung an Björns Hose, nicht
besonders auffällig, aber auch nicht zu übersehen, wenn man
sie
einmal entdeckt hatte, eine faltige Erhebung, eine Verwerfung. >Du
täuschst
dich<, sagte ich leise, >das kann nicht sein.< Er schluckte
und nickte.
Wir kauerten vor Björn und wären gern davon überzeugt
gewesen,
daß es sich um eine zufällige Fältelung handelte. Sie
ging
nicht zurück. Sie schien unter unseren Blicken an Sichtbarkeit
sogar
noch zu gewinnen. >Das kann nicht sein<, wiederholte ich.
Wir wußten beide, wie dieses Rätsel mit einem
einzigen Handgriff zu lösen war. Einmal hob Urs auch seine Hand,
ließ
sie aber wieder sinken, und ich versuchte es gar nicht erst. Aus
Respekt
vor Björn. Aus Ehrfurcht vor ihm. Aus Verlegenheit über
unsere
lächerlichen Besorgnisse. Aus Furcht vor dem, was sein würde,
wenn wir uns nicht getäuscht hatten. Aus all diesen Gründen.
Statt dessen faßte ich Björn mit beiden Händen unter
die
Achseln, hob ihn sachte in die Höhe und trug ihn mit
ausgestreckten
Armen wie ein zerbrechliches Gefäß, das bis zum Rand mit
einer
kostbaren oder gefährlichen Flüssigkeit gefüllt ist,
langsam
zum Kleiderschrank hinüber. >Mach bitte die Tür auf!<
sagte
ich zu Urs und setzte Björn unter meinen Jacken und Röcken
ab.
Im Halbdunkel des Schrankes kam es mir vor, als blitzte in seinen
schwarzen
Knopfaugen Siegesgewißheit. Als ich die Tür geschlossen
hatte,
atmete ich auf. Doch Urs hatte begonnen, sich anzuziehen. >Ich gehe
jetzt<,
sagte er. Und er ging. Hastig. Zum Abschied küßten wir uns
nicht
einmal.«
Sprickmann kam vom Fenster zu mir herüber. »Ich
gehe nicht«,
sagte er, »noch nicht.«
Ich rückte ein wenig zur Seite, und er setzte sich
neben mich auf das Bett.
»Was für eine Geschichte!« sagte er.
»Ich glaube, jetzt verstehe ich alles.«
»Ich habe Urs nie wieder getroffen. Aber seit diesem
Nachmittag habe ich Björn immer, wenn ich Besuch hatte, in den
Schrank
gesperrt. Es ist besser so, glauben Sie mir!«
Ich spürte, wie er mich von der Seite betrachtete.
Er hob seine Hand und strich mir über das Haar.
»Ich dachte«, sagte ich, »Sie
interessieren
sich nur für Bären.«
»Das habe ich auch gedacht«, sagte er.
»Aber
in Gegenwart alter Bären ist alles anders. Da gerät so
manches
unvermutet aus dem Lot.«
»Auch wenn die Bären sich gar nicht
zeigen?«
fragte ich lächelnd.
»Offenbar. Vielleicht zeigt sich darin ihre Kraft
und ihre Herrlichkeit - gerade darin.«
Er griff nach meinen Händen. Ich ließ mich
nach hinten sinken.
»Aber nachher«, flüsterte er,
während
seine Lippen kleine Küsse auf meinem Haar, meiner Stirn, meiner
Nasenspitze,
meiner Wange und meinem Mund absetzten, »sehen wir im Schrank
nach,
... wie es um Ihren Bären ... steht.«
»Ja«, seufzte ich, »nachher.«
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