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Reinhard Kaisers Elektroarchiv


»Mich übersetzen? Ist das Ihr Ernst?«
Werkstattgespräch

 

Es war an einem Freitagabend, Mitte Februar. Vormittags hatte ich die erste Korrektur von Buch Fünf des »Simplicissimus« abgeschlossen und war eben von einer ziemlich langen, aber erfreulich kurzweiligen Besprechung im Verlag über unser Grimmelshausen-Projekt an meinen Schreibtisch zurückgekehrt. Da stand er plötzlich hinter mir und starrte mißtrauisch auf den Bildschirm, wo sich gerade die Datei »Gri01.doc« öffnete. Nicht mein elektronisches Schreibgerät irritierte ihn.

 

Was lese ich da? »Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts...«? Soll das heißen, Sie übersetzen mich? Aus dem Deutschen ins Deutsche? Ist das Ihr Ernst?

 

Und ein großes Vergnügen ist es auch!

 

Für mich wohl weniger, fürchte ich... Man ist ja so wehrlos in der Lage, in der ich mich befinde. Was habe ich mir nicht schon alles gefallen lassen müssen! Umgeschrieben haben sie meinen »Simplicissimus«, zusammengestrichen, gesäubert, zensiert - für die Jugend, für den guten Geschmack, für Volk und Nation... Aber übersetzt - ins Deutsche, meine ich - hat mich noch niemand! So dreist war noch keiner.

 

Ja, Übersetzen ist eine ziemlich brutale Operation. Aber gekürzt, gesäubert und zensiert wird dabei nicht.

 

Wozu machen Sie sich überhaupt die Mühe? Wollen Sie denn behaupten, dass man mich in meinem eigenen Land nicht mehr versteht?

 

Sie wissen ja, Sprachen verändern sich immerzu - kaum merklich für die, die sie gerade sprechen, aber unübersehbar, wenn man zurückblickt und ältere Bücher aufschlägt. Dreihundertvierzig Jahre sind da keine Kleinigkeit. Die Unverständlichkeiten häufen sich.

 

Aber was sind dreihundertvierzig Jahre gegen die achthundert Jahre eines »Parzival«?! Den übersetzt man inzwischen ja auch immer mal wieder - mit wechselndem Erfolg, wie ich gesehen habe. Trotzdem, was meine Bücher betrifft, finde ich immer noch: Hände weg! Sollen sich die Leute lieber ein bißchen Mühe geben, auch wenn's schwerfällt!

 

Sie werden lachen! Viele meinen, es gehe ganz ohne Mühe, und wundern sich über die Idee, den »Simplicissimus« zu übersetzen. »Wozu denn das?«, sagen sie. »Den kann man doch lesen!« Aber wenn man dann nachfragt, ob sie es auch getan oder wenigstens versucht haben, werden die meisten kleinlaut, schütteln den Kopf oder geben zu, sie seien über zehn oder zwanzig Seiten nicht hinausgekommen.

 

Immerhin sind sie ehrlich.

 

An Heuchlern, die so tun als ob, fehlt es nicht. Aber es gibt auch Leute, die sich wirklich Mühe geben oder geben müssen. Die erarbeiten sich Ihr Buch in Oberstufen-Leistungskursen und Germanistikseminaren. Das sind die happy few!, könnte man sagen. Aber es stimmt leider nicht. Denn erstens sind sie gar nicht so wenige, und zweitens sind die meisten von ihnen nicht besonders happy. Neulich fragte mich ein junger Mann, woran ich gerade sitze. Als ich es ihm sagte, zuckte er zusammen und seufzte: »Am Simplicissimus bin ich in der Schule gescheitert!«

 

Na, das klingt ja geradezu nach Mißbrauch! Eine Quälerei sollte mein Buch nun wirklich nicht sein - im Gegenteil! Und es war auch keine, als es herauskam.

 

Vor dreihundertvierzig Jahren!

 

Und heute? Wo liegt das Problem? Was quält?

 

Da kommt, glaube ich, Verschiedenes zusammen. Wie gesagt, das Unverständliche oder schwer Begreifliche nimmt zu - Wörter und Wendungen, die außer Gebrauch und so sehr in Vergessenheit geraten sind, dass man sie wie Vokabeln einer fremden Sprache in Wörterbüchern nachschlagen muss. Und dann sind da auch - besonders tückisch! - etliche nach wie vor gebräuchliche Wörter, deren Bedeutung sich im Lauf der Zeit verschoben hat, ohne dass man es ihnen gleich ansieht, die sogenannten »falschen Freunde«.

 

Was sind denn das für Kerle?

 

Zum Beispiel das Wort etliche selbst. Heutzutage denkt man dabei an ziemlich viele, im »Simplicissimus« dagegen bedeutet es einige wenige, ein paar. Drei Leute sind dort schon etliche. Oder das Wort Gewehr. Heute denkt dabei jeder an eine Schusswaffe. In Ihrem Buch bedeutet es aber Waffen überhaupt, Bewaffnung, Rüstung - ein Degen gehört genauso zum Gewehr wie ein Brustpanzer oder eine Muskete.

Aber solche »harten« Übersetzungsschwierigkeiten sind nur ein Teil des Problems. Mindestens genauso wichtig und genauso verständniserschwerend sind unzählige kleinere Stolpersteine - Merkwürdigkeiten, Rätsel, Zweifelsfälle, die die meisten Leser mit ein wenig Nachdenken selbst klären können, alte Wortformen, altertümliche Schreibungen, absonderliche grammatische Strukturen und, mit Verlaub, eine gewisse Unübersichtlichkeit mangels gliedernder Satzzeichen und Absätze.

Das alles erweckt den Anschein, als wäre die Prosa Ihres Romans mit einer Kruste oder, sagen wir, einer Patina überzogen, die den heutigen Leser vor eine schwierige Wahl stellt. Entweder er liest langsam, hält bei jedem Stutzpunkt inne und räumt ihn mit eigenem Nachdenken aus dem Weg. Dann wird das Lesen ausgebremst und verwandelt sich in ein Entziffern, in ein Übersetzen im Kopf. Für manche Leser, für die Übersetzer unter ihnen, kann das einen großen Reiz haben. Es ist aber nicht jedermanns Sache. Oder der Leser liest, wie er es gewohnt ist: zügig - und merkt bald, wie er nicht mehr alles mitbekommt. Eine Dunstschicht scheint sich über den Text zu legen, die vieles verschwimmen und nur die gröberen Konturen noch einigermaßen klar erkennen lässt. So bietet der »Simplicissimus« heutigen Lesern die Chance, sich auf zweierlei Weise zu verirren - entweder im Dunst des nur halb Verstandenen oder in Schwärmen von Einzelheiten, die der Klärung und Erklärung bedürfen.

 

Und Sie nehmen ihnen das Entziffern nun ab?

 

Ich versuche es - durch Übersetzen. Es wäre allerdings vermessen zu behaupten, dass bei dieser Operation, wenn der Übersetzer nur genügend Treue walten lässt, nichts verloren ginge. Manches, auch manches Reizvolle, geht beim Übersetzen unter. Das ist unvermeidlich. Aber anderes kommt, wenn die Sache gelingt, wieder zum Vorschein oder lässt sich auf neue Weise sichtbar machen. Ich hoffe jedenfalls, dass die Übersetzung denen, die sie nun lesen werden, zu Entdeckungen verhilft, mit denen sie nicht gerechnet haben. Ihr »Simplicissimus« ist nämlich nicht das, was er unter jener Dunstglocke zu sein scheint - er ist keine altbackene, muffig und fast ungenießbar gewordene Scharteke, sondern ein Roman, der mit seinem Scharfsinn, seinem Witz und seiner gedankenspielerischen Kunstfertigkeit, mit seiner Großartigkeit und Eindringlichkeit zu den allerbesten gehört, die unsere Literatur hervorgebracht hat. Ich würde mich freuen, wenn diese Übersetzung wieder erkennbar, erlebbar und lesbar macht, dass uns Ihr Roman viel näher kommen und viel direkter ergreifen und packen kann, als wir es von einem dreihundertvierzig Jahre alten Buch je erwartet hätten.

Genug gepredigt, Herr Übersetzer. Warten wir ab, was die Leute dazu sagen!

 

Sprach's, und war im nächsten Augenblick verschwunden.