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          Eos´ Gelüst
          Roman. Schöffling & Co. Frankfurt 1995 
          163 S., geb., € 17,50
          ISBN 978-3-89561-060-8 

          Und daß die alte
          Schwiegermutter Weisheit
          Das zarte Seelchen
          Ja nicht beleidge!
          J.W.v.G., »Meine Göttin«

           Eos — ja, Eos, die rosenfingrige, gelbgewandete Eos, steht nach einsamer Nacht auf ihrem Balkon im obersten Stock eines Hochhauses am Rand der Stadt, und hadert mit ihrem Namen. Von Zeit zu Zeit (und besonders nach einsamen Nächten) kommt es ihr vor, als hätte dieser Name alles Lockende, das er einmal besaß, alle Eleganz und Tiefe verloren. Von Zeit zu Zeit (und besonders in neuerer Zeit) klingt Eos in Eos' Ohren wie eine Formel, eine Abkürzung für etwas Europäisches oder etwas Elektronisches, E-O-S, ein Raumfahrtvorhaben, ein Fortbildungsinstitut für Bürokraten, Ecole d'Organisation Supérieure. Aber soll Eos sich deshalb Aurora nennen?
             Wie aus grauem Papier geschnitten, ragt der doppelt gespitzte Dom über die innere Stadt. Hinter dem östlichen Horizont, jenseits des Flusses, mischen sich Purpur und Rosa mit dem Grau der Dämmerung. Die Nacht zieht ab. Eos fröstelt. Es ist Mitte März. Sie hat zwar, bevor sie auf den Balkon hinaustrat, eine dunkelgraue Strickjacke über ihr gelbes Kleid gezogen, aber sie trägt keine Strümpfe, und ihre Füße stecken in hellblauen, vorne offenen Frottéschuhen, die ins Badezimmer gehören, nicht auf den windigen Balkon. Sie zieht die Wolljacke so fest und eng um sich, wie sie nur kann. Aber wärmer wird ihr nicht. Vor fünf Tagen hat Hans ihr Adieu gesagt, ausgerechnet Adieu, und ist zu Frau und Kindern und zu seinen Schülern zurückgekehrt — der erste von allen, der weggegangen ist, ohne daß sie es so wollte. Jetzt, da sie friert, vermißt sie vor allem seinen Arm. Seinen Arm auf ihren Schultern.
             Auch ihr zweiter Name, der Name, unter dem ihre Freunde sie kennen, der Name, den Hans gelegentlich so ermunternd neben ihrem Ohr flüstern konnte, der Name ihrer Wahl, Emily O'Sterne, gefällt Eos an diesem Morgen nicht. Schlecht gewählt findet sie. Der Vorname klang einmal sehr gewitzt und klingt jetzt so unbeholfen: E-mi-ly — wie ein verzagter Walzerschritt. Aber als ein Fehler, als fortwährende Belastung hat sich die Wahl ihres Nachnamens erwiesen. Gerade weil, wenn Eos spricht, nicht im entferntesten irgendein gälischer oder englischer Ton und überhaupt kein fremder Akzent bemerkbar wird, löst der Name O'Sterne bei Freunden und Bekannten unweigerlich Fragen nach ihrer Herkunft aus, und Eos muß diese Fragen nun jedesmal mit einer Geschichte beantworten, die glaubhaft zu machen ihr von Mal zu Mal schwerer fällt. Diese Geschichte handelt von der Ehe eines Iren, eines gewissen Patrick O'Sterne, mit einer in Deutschland aufgewachsenen Schwedin und von dem jähen Ende dieser Ehe. Eos muß darauf achten, daß sie diese Geschichte jedem, der sie hören will, nur einmal auftischt. Leute mit gutem Gedächtnis könnten sonst leicht Verdacht schöpfen. Denn es gelingt Eos einfach nicht, sich den Namen ihrer Mutter auf Dauer einzuprägen. Die wechselnden Namen, die sie ihr gibt, weisen zwar gewisse Ähnlichkeiten auf. Sie klingen erlesen, aufwendig, ein wenig gesucht. Aber als sich Eos das Leben für Emily O'Sterne zurechtlegte, schwankte sie so lange zwischen verschiedenen Namen für deren Mutter, daß sie sich nachher nicht merken konnte, auf welchen ihre Wahl nun eigentlich gefallen war, und nun schwankt sie zwischen Patrizia, Rosalia und Regina, zwischen Virginia, Veronika, Vanessa und Viola jedesmal von neuem und muß auf der Hut sein, daß man sie nicht dabei ertappt, wie sie den Namen ihrer eigenen Mutter aus der Luft greift.
             Mißmutig tritt Eos an das Geländer ihres Balkons und bemerkt plötzlich tief unter sich einen Mann, der in der ersten Etage eines der kleineren Häuser in der Nachbarschaft ein Fenster aufgestoßen hat und hinaussieht. Es kommt ihr vor, als habe sie ihn hin und wieder schon gesehen, an diesem Fenster vielleicht oder an der Bushaltestelle oder im Vorübergehen auf der Straße. Aber beachtet hat sie ihn nie, und seinen Namen kennt sie nicht. Vielleicht erblickt sie ihn an diesem Morgen auch zum erstenmal. In ihren Tageskleidern sehen die Menschen — und die Männer zumal — doch ganz anders aus als in ihren Nachtgewändern, und dieser Mann trägt nicht etwa einen gewöhnlichen Schlafanzug (wie Hans ihn schätzte), sondern ein langes, gestreiftes Nacht- und Clownshemd. Wahrscheinlich reicht es ihm bis zu den Knöcheln.
             Der Mann im Nachthemd hat die Nacht nicht allein verbracht. Für kurze Zeit erscheint hinter ihm in der Fensteröffnung eine Frau mit aufgelöstem Haar. Sie wirft einen Blick über die Schulter des Mannes nach draußen und sagt etwas zu ihm. Sie sagt nicht viel, nur ein paar Wörter, die Eos gern verstehen würde. Sie sagt sie dicht neben dem Ohr des Mannes und sieht dabei nicht ihn oder sein Gesicht oder sein Ohr an, sondern blickt aus dem Fenster. Und auch er, während er hört, was sie sagt, wendet ihr nicht den Kopf zu, sondern sieht aus dem Fenster. Es liegt aber soviel Einmütigkeit in dem Nebeneinander dieser beiden Köpfe, daß Eos hoch oben auf ihrem Balkon ein Stechen in ihrer Magengrube spürt. Eifersucht und nutzloser Neid springen auf — alberne, aber nichts destoweniger wirkliche Regungen, die jedoch bald wieder zur Ruhe kommen. Denn die Frau tritt in das Zimmer zurück und wird unsichtbar.
             Der Mann indessen, in seinem Nachthemd, bleibt am Fenster stehen, und je länger Eos seinen Vorbereitungen für den neuen Tag zusieht, je länger sie beobachtet, wie er sich reckt, wie er inbrünstig gähnt, wie er mit der Hand über sein Haar fährt, sich mit Hingabe kratzt und frohgemut seine Nasenspitze befingert, desto weniger begreiflich erscheint es ihr, daß sie ihn bisher nie bemerkt hat.

          Noch am gleichen Morgen bringt sie seinen Namen in Erfahrung. Anrath steht neben dem Klingelknopf an seiner Haustür, und am Briefkasten kann Eos vor seinem Namen außerdem ein »P« entziffern. Nachmittags sitzt sie auf der Hollywoodschaukel, die eine Seite ihres Balkons einnimmt, und denkt über dieses vieldeutige, vielversprechende »P« nach. Die Hollywoodschaukel hat sie vor zwanzig Jahren angeschafft und seither selten benutzt. Ludwig liebte dieses Möbel sehr. Nun streichelt Eos gedankenvoll den rotgelb gestreiften, unter Sonne und Wetter verblaßten, spröde gewordenen Stoffbezug und hofft bereits auf ein Wiedersehen mit P. Anrath am nächsten Morgen.
             Am Morgen ist sie rechtzeitig auf ihrem Posten. An jedem Morgen von nun an — und hat an jedem Morgen Glück. Denn P. Anrath ist ein Mensch mit Gewohnheiten. Um halb acht öffnet er das Fenster, hinter dem er die Nacht mit jener anderen Frau verbracht hat, und blickt hinaus. Eos steht geduckt. Sie betrachtet ihn durch einen Spalt zwischen den grauen Blechplatten, mit denen das Geländer ihres Balkons verkleidet ist. So entsteht ihre Neigung in großer Höhe und ohne Wissen dessen, dem sie gilt. An der Heftigkeit dieser Neigung ändert das nichts. Schon nach drei Tagen ist Eos mehrmals in jeder Stunde zwischen Morgen und Morgen mit ihren Gedanken bei Anrath. Am vierten Tag greift die Unruhe stark nach ihr. Am fünften Tag gesteht sie sich, daß sie ohne P. Anrath nicht mehr lange wird leben können. Am sechsten Tag gibt sie ihr Versteckspiel auf.
             In dem Augenblick, da Anrath gegen halb acht, wie immer, an seinem Fenster erscheint, tritt Eos mit einem ihrer Teppiche auf den Balkon, einem grauweißen, struppigen, der gewöhnlich unter ihrem Arbeitstisch liegt. Sie hebt ihn über die Brüstung und beginnt ihn zu schütteln. Ein dumpfes, aus dem Inneren des Gewebes hervordringendes Schwappen begleitet die Wellenbewegungen, in die sie den Teppich versetzt. Dieses Geräusch ist nicht zu überhören, das Auf und Ab des Teppichs nicht zu übersehen. Anrath steht am Fenster, beide Hände auf die Fensterbank gestützt, und blickt nach oben. Der schwere Teppich wallt. Aber Eos will mehr. Sie nimmt ihre ganze Kraft zusammen. Für Bruchteile von Sekunden scheint ihr Teppich schon in der Luft zu schweben. Er gewinnt auch sogleich ein orientalisches Aussehen und fliegt wenig später tatsächlich — fliegt in gewisser Weise. Nicht in die Ferne. Nicht ins Morgenland. Nicht in den orangerot entflammten Morgenhimmel, über den der Rauch mehrerer Fabrikschornsteine, die Kondensstreifen einiger Flugzeuge und die Wolkenbildungen der Natur selbst eine Zeichnung in unterschiedlichen Grautönen gelegt haben. Sondern abwärts. In die schattige Tiefe. Plump und schwer. Darin besteht der Unterschied. Ein Taschentuch, in dieser Höhe frei gelassen, wäre nach unten gesegelt. Der Teppich hingegen stürzt, vorbei an den sieben Balkonen der sieben tiefer gelegenen Stockwerke, ratscht zuletzt noch an einem in voller Blüte stehenden Forsythiengebüsch vorbei und schlägt inmitten einer kleinen Staubwolke neben dem Hochhaus auf.

          Eos beugt sich über das Geländer ihres Balkons und starrt nach unten, wo Anrath seinen Platz am Fenster eben verläßt. Hat ihr hilfesuchender Blick ihn also erreicht? Oder hat ihr Blick aus der Höhe, aus der Ferne, aus dem Gegenlicht ihn gerade verfehlt? Beginnt er diesen Tag wie jeden Tag? Erzählt er der Frau, mit der er die Nacht verbracht hat, eben jetzt von der lächerlichen Erscheinung eines im Frühlicht flatternden Teppichs? Amüsiert er sich mit ihr über das Mißgeschick einer putzwütigen Unbekannten? Oder sagt er ihr kein Wort von dem, was er gesehen hat? Wirft er sich, neugierig geworden, eben jetzt in seine Tageskleider, um unter irgendeinem Vorwand aus der Wohnung zu eilen und Eos an die Seite zu springen?
             Wäre sich Eos ihrer alten Verbindungen noch gewiß, brauchte sie nicht auf die Kraft ihrer Blicke zu hoffen. Es gab Zeiten, da hätte das Wünschen und Wollen genügt. Da wäre sie hinausgetreten und hätte ihre Beziehungen nach oben spielen lassen. Dort oben jedoch rührt sich nichts mehr. Die da oben haben die Hände in den Schoß gelegt — sehen zu oder sind eingeschlafen. Ein Altersheim vor dem Fernseher. Greise und Greisinnen, zur Seite gesunken oder aufrecht erstarrt, die Gesichter vom weißen Licht der Mattscheibe beflimmert, die Nacken vom gelben Licht einer Stehlampe und vom grünen eines Aquariums beschienen. Es herrscht Stille im Fernsehraum. Die Hände erschlafft, die Lippen erblaßt, alle Kräfte sind verbraucht und alle Wünsche verwunschen. Die Organisation Supérieure hat ihre Tätigkeit eingestellt. Eos hier unten muß allein zurecht kommen, muß sich auf ihre Listen, ihre Geschichten, ihre Blicke, ihre Überredungskünste verlassen. Inzwischen ist es so weit gekommen, daß sie sich selbst da nicht mehr zuständig fühlt, wo einmal ihre Stärken lagen, bei der Gestaltung des Morgenhimmels. Inzwischen mischen und malen die Sterblichen hier Tag für Tag mit, und zwar so unüberlegt, so geschmacklos, mit so unmöglichen Farben, daß Eos sich schon seit längerer Zeit nicht mehr als Malerin betätigt, nur noch als Zeichnerin. Morgens wirft sie einen abschätzigen Blick von ihrem Balkon in die Runde und beugt sich dann drinnen am Arbeitstisch über ihre Blätter. Dort ist sie tagsüber mit Stiften und Gedanken bei den schönen Sterblichen, die ihr im Laufe der Zeit begegnet sind. Sie zeichnet Körper, Partien von Körpern, Gesichter, isolierte Gliedmaßen, die Leiber derjenigen, die vor ihren Augen, unter ihren Händen gealtert und zur Unansehnlichkeit geschrumpft sind. Eos dagegen altert nicht. Über ihren Leib geht die Zeit hinweg, ohne Spuren zu hinterlassen. Allerdings häuft und vermehrt sich auch in ihrem Gedächtnis die Erinnerung und macht sie bisweilen, wie sie es früher nicht kannte und nicht für möglich gehalten hätte, ein wenig gleichmütig gegen die Gegenwart. In diesem Augenblick jedoch nicht. Denn unter ihr auf dem Rasenstück hinter dem Hochhaus ist Anrath erschienen, schiebt, während er zielstrebig auf ihren Teppich zugeht, das Ende seines Gürtels in eine Schlaufe am Hosenbund und fährt sich mit gespreizten Fingern durch das Haar. Eos macht kehrt. Durch den Flur stürmt sie ihrem eigenen Bild entgegen. Ein großer Spiegel hängt an der Wohnungstür. Eos gefällt sich darin auch aus der Nähe und eilt nach unten.

          »Versteinert!« ruft sie, aufgekratzt und atemlos, schon von weitem.
          Abwartend, Ausschau haltend steht Anrath an der Absturzstelle, den Ellbogen auf Eos' zusammengerollten Teppich wie auf einen Säulenstumpf gestützt, die Forsythien im Hintergrund.
             »Versteinert!« sagt Eos noch einmal und lacht, weil sie ihr Keuchen nicht bändigen kann. »Kennen Sie dieses Spiel? Alle tummeln sich wie wild, und wenn der Ruf ertönt, müssen sie auf der Stelle erstarren.«
             Anrath schüttelt den Kopf. »Ich dachte, ich könnte Ihnen helfen«, sagt er.
             »Das können Sie!« entgegnet Eos. »Bleiben Sie so stehen — nicht bewegen!«
             Mit schräg gelegtem Kopf, während Anrath, stutzig geworden, ihren Blick sucht, erwägt Eos, was zu tun sei, geht kurz entschlossen hinüber zu dem Forsythienbusch und bricht einen der beim Sturz ihres Teppichs geknickten Blütenzweige vollends ab. Mit dem Zweig in der Hand tritt sie wieder vor Anrath hin und betrachtet ihn aus schmalen Augen.
             Anrath aber, den Unterarm auf die zausige Teppichsäule gelehnt, will nur eines wissen: »Und wohin jetzt damit?«
             Eos legt einen Finger vor ihre Lippen. Sie überlegt, und während sie überlegt, soll er schweigen, keine Frage stellen, und schon gar keine, die sich auf den Teppich bezieht. Auch bewegen soll er sich nicht und nicht sich entfernen. Nur das nicht. Eos schiebt den Finger zwischen ihre Lippen. Sie denkt nach. Angestrengter, aufgeregter, weniger zuversichtlich als noch vor einer Minute, da sie ihn in Stein verwandeln wollte, saugt sie an der Kuppe ihres Fingers. Denkt nach. Wie soll sie ihn halten? Wie ihn hindern, sich zu entfernen? Ihm den Blütenzweig in das ungekämmte Haar stecken, oder hinter das Ohr, wie einen Federkiel — ihn schmücken, damit er stillhält? Ihm den Blütenzweig zwischen die Lippen schieben und auf diese Weise am Sprechen hindern? Unmöglich. Wer weiß, ob die dicht an dicht sitzenden Blüten nicht giftig sind. Eos kaut an ihrer Fingerkuppe. Es bleibt ihr wenig Zeit. Mit ihrer List ist sie am Ende. Jetzt muß ein Einfall her. Aber woher? In Hörweite schwirren Ideen. Mit hoher Geschwindigkeit. Umarm ihn, umfang ihn, küss ihn, fessel ihn, nicht mit Zweigen — mit Worten wie Stricken, mit Blicken wie Ketten. Ein Schwarm rasender Ideen. Schon vorüber. Keine greifbar. Keine sichtbar. Und alles Naheliegende ist unmöglich. Unmöglich, dicht vor ihn zu treten. Unmöglich, gleich hier wenigstens von seinem Duft zu kosten. Unmöglich, sich, während sie ihn dekoriert, ein wenig zu recken. Sich an ihm, der fast einen Kopf größer ist als sie, emporzuranken. Er würde nicht stillhalten. Er würde erschrecken, zurückweichen, die Flucht ergreifen.
             Eos läßt ihren Forsythienzweig sinken.
             »Würden Sie mir denn helfen, den Teppich hinaufzutragen?« fragt sie, und Anrath antwortet:
             »Gern.«
             Aber gern muß nichts bedeuten. Gern würde er auch sagen, wenn er nichts weiter als behilflich sein will.
             »Es gibt einen Aufzug«, sagt Eos und geht voran.

          "Eos´s Gelüst" - wie es wurde, was es ist. Werkstattbericht

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          Reinhard Kaiser, Eos´ Gelüst. (c) 1995 Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH.