Eos´
Gelüst Roman. Schöffling & Co. Frankfurt 1995 163 S., geb., € 17,50 ISBN 978-3-89561-060-8 |
Noch am gleichen Morgen bringt sie seinen Namen in
Erfahrung. Anrath
steht neben dem Klingelknopf an seiner Haustür, und am Briefkasten
kann Eos vor seinem Namen außerdem ein »P«
entziffern.
Nachmittags sitzt sie auf der Hollywoodschaukel, die eine Seite ihres
Balkons
einnimmt, und denkt über dieses vieldeutige, vielversprechende
»P«
nach. Die Hollywoodschaukel hat sie vor zwanzig Jahren angeschafft und
seither selten benutzt. Ludwig liebte dieses Möbel sehr. Nun
streichelt
Eos gedankenvoll den rotgelb gestreiften, unter Sonne und Wetter
verblaßten,
spröde gewordenen Stoffbezug und hofft bereits auf ein Wiedersehen
mit P. Anrath am nächsten Morgen.
Am Morgen ist sie rechtzeitig auf ihrem Posten. An jedem
Morgen von nun an — und hat an jedem Morgen Glück. Denn P.
Anrath
ist ein Mensch mit Gewohnheiten. Um halb acht öffnet er das
Fenster,
hinter dem er die Nacht mit jener anderen Frau verbracht hat, und
blickt
hinaus. Eos steht geduckt. Sie betrachtet ihn durch einen Spalt
zwischen
den grauen Blechplatten, mit denen das Geländer ihres Balkons
verkleidet
ist. So entsteht ihre Neigung in großer Höhe und ohne Wissen
dessen, dem sie gilt. An der Heftigkeit dieser Neigung ändert das
nichts. Schon nach drei Tagen ist Eos mehrmals in jeder Stunde zwischen
Morgen und Morgen mit ihren Gedanken bei Anrath. Am vierten Tag greift
die Unruhe stark nach ihr. Am fünften Tag gesteht sie sich,
daß
sie ohne P. Anrath nicht mehr lange wird leben können. Am sechsten
Tag gibt sie ihr Versteckspiel auf.
In dem Augenblick, da Anrath gegen halb acht, wie immer,
an seinem Fenster erscheint, tritt Eos mit einem ihrer Teppiche auf den
Balkon, einem grauweißen, struppigen, der gewöhnlich unter
ihrem
Arbeitstisch liegt. Sie hebt ihn über die Brüstung und
beginnt
ihn zu schütteln. Ein dumpfes, aus dem Inneren des Gewebes
hervordringendes
Schwappen begleitet die Wellenbewegungen, in die sie den Teppich
versetzt.
Dieses Geräusch ist nicht zu überhören, das Auf und Ab
des
Teppichs nicht zu übersehen. Anrath steht am Fenster, beide
Hände
auf die Fensterbank gestützt, und blickt nach oben. Der schwere
Teppich
wallt. Aber Eos will mehr. Sie nimmt ihre ganze Kraft zusammen.
Für
Bruchteile von Sekunden scheint ihr Teppich schon in der Luft zu
schweben.
Er gewinnt auch sogleich ein orientalisches Aussehen und fliegt wenig
später
tatsächlich — fliegt in gewisser Weise. Nicht in die Ferne.
Nicht
ins Morgenland. Nicht in den orangerot entflammten Morgenhimmel,
über
den der Rauch mehrerer Fabrikschornsteine, die Kondensstreifen einiger
Flugzeuge und die Wolkenbildungen der Natur selbst eine Zeichnung in
unterschiedlichen
Grautönen gelegt haben. Sondern abwärts. In die schattige
Tiefe.
Plump und schwer. Darin besteht der Unterschied. Ein Taschentuch, in
dieser
Höhe frei gelassen, wäre nach unten gesegelt. Der Teppich
hingegen
stürzt, vorbei an den sieben Balkonen der sieben tiefer gelegenen
Stockwerke, ratscht zuletzt noch an einem in voller Blüte
stehenden
Forsythiengebüsch vorbei und schlägt inmitten einer kleinen
Staubwolke
neben dem Hochhaus auf.
Eos beugt sich über das Geländer ihres Balkons und
starrt
nach unten, wo Anrath seinen Platz am Fenster eben verläßt.
Hat ihr hilfesuchender Blick ihn also erreicht? Oder hat ihr Blick aus
der Höhe, aus der Ferne, aus dem Gegenlicht ihn gerade verfehlt?
Beginnt
er diesen Tag wie jeden Tag? Erzählt er der Frau, mit der er die
Nacht
verbracht hat, eben jetzt von der lächerlichen Erscheinung eines
im
Frühlicht flatternden Teppichs? Amüsiert er sich mit ihr
über
das Mißgeschick einer putzwütigen Unbekannten? Oder sagt er
ihr kein Wort von dem, was er gesehen hat? Wirft er sich, neugierig
geworden,
eben jetzt in seine Tageskleider, um unter irgendeinem Vorwand aus der
Wohnung zu eilen und Eos an die Seite zu springen?
Wäre sich Eos ihrer alten Verbindungen noch
gewiß,
brauchte sie nicht auf die Kraft ihrer Blicke zu hoffen. Es gab Zeiten,
da hätte das Wünschen und Wollen genügt. Da wäre
sie
hinausgetreten und hätte ihre Beziehungen nach oben spielen
lassen.
Dort oben jedoch rührt sich nichts mehr. Die da oben haben die
Hände
in den Schoß gelegt — sehen zu oder sind eingeschlafen. Ein
Altersheim
vor dem Fernseher. Greise und Greisinnen, zur Seite gesunken oder
aufrecht
erstarrt, die Gesichter vom weißen Licht der Mattscheibe
beflimmert,
die Nacken vom gelben Licht einer Stehlampe und vom grünen eines
Aquariums
beschienen. Es herrscht Stille im Fernsehraum. Die Hände
erschlafft,
die Lippen erblaßt, alle Kräfte sind verbraucht und alle
Wünsche
verwunschen. Die Organisation Supérieure hat ihre
Tätigkeit
eingestellt. Eos hier unten muß allein zurecht kommen, muß
sich auf ihre Listen, ihre Geschichten, ihre Blicke, ihre
Überredungskünste
verlassen. Inzwischen ist es so weit gekommen, daß sie sich
selbst
da nicht mehr zuständig fühlt, wo einmal ihre Stärken
lagen,
bei der Gestaltung des Morgenhimmels. Inzwischen mischen und malen die
Sterblichen hier Tag für Tag mit, und zwar so unüberlegt, so
geschmacklos, mit so unmöglichen Farben, daß Eos sich schon
seit längerer Zeit nicht mehr als Malerin betätigt, nur noch
als Zeichnerin. Morgens wirft sie einen abschätzigen Blick von
ihrem
Balkon in die Runde und beugt sich dann drinnen am Arbeitstisch
über
ihre Blätter. Dort ist sie tagsüber mit Stiften und Gedanken
bei den schönen Sterblichen, die ihr im Laufe der Zeit begegnet
sind.
Sie zeichnet Körper, Partien von Körpern, Gesichter,
isolierte
Gliedmaßen, die Leiber derjenigen, die vor ihren Augen, unter
ihren
Händen gealtert und zur Unansehnlichkeit geschrumpft sind. Eos
dagegen
altert nicht. Über ihren Leib geht die Zeit hinweg, ohne Spuren zu
hinterlassen. Allerdings häuft und vermehrt sich auch in ihrem
Gedächtnis
die Erinnerung und macht sie bisweilen, wie sie es früher nicht
kannte
und nicht für möglich gehalten hätte, ein wenig
gleichmütig
gegen die Gegenwart. In diesem Augenblick jedoch nicht. Denn unter ihr
auf dem Rasenstück hinter dem Hochhaus ist Anrath erschienen,
schiebt,
während er zielstrebig auf ihren Teppich zugeht, das Ende seines
Gürtels
in eine Schlaufe am Hosenbund und fährt sich mit gespreizten
Fingern
durch das Haar. Eos macht kehrt. Durch den Flur stürmt sie ihrem
eigenen
Bild entgegen. Ein großer Spiegel hängt an der
Wohnungstür.
Eos gefällt sich darin auch aus der Nähe und eilt nach unten.
»Versteinert!« ruft sie, aufgekratzt und
atemlos, schon
von weitem.
Abwartend, Ausschau haltend steht Anrath an der Absturzstelle, den
Ellbogen auf Eos' zusammengerollten Teppich wie auf einen
Säulenstumpf
gestützt, die Forsythien im Hintergrund.
»Versteinert!« sagt Eos noch einmal und lacht,
weil sie ihr Keuchen nicht bändigen kann. »Kennen Sie dieses
Spiel? Alle tummeln sich wie wild, und wenn der Ruf ertönt,
müssen
sie auf der Stelle erstarren.«
Anrath schüttelt den Kopf. »Ich dachte, ich
könnte Ihnen helfen«, sagt er.
»Das können Sie!« entgegnet Eos.
»Bleiben
Sie so stehen — nicht bewegen!«
Mit schräg gelegtem Kopf, während Anrath,
stutzig
geworden, ihren Blick sucht, erwägt Eos, was zu tun sei, geht kurz
entschlossen hinüber zu dem Forsythienbusch und bricht einen der
beim
Sturz ihres Teppichs geknickten Blütenzweige vollends ab. Mit dem
Zweig in der Hand tritt sie wieder vor Anrath hin und betrachtet ihn
aus
schmalen Augen.
Anrath aber, den Unterarm auf die zausige
Teppichsäule
gelehnt, will nur eines wissen: »Und wohin jetzt damit?«
Eos legt einen Finger vor ihre Lippen. Sie überlegt,
und während sie überlegt, soll er schweigen, keine Frage
stellen,
und schon gar keine, die sich auf den Teppich bezieht. Auch bewegen
soll
er sich nicht und nicht sich entfernen. Nur das nicht. Eos schiebt den
Finger zwischen ihre Lippen. Sie denkt nach. Angestrengter,
aufgeregter,
weniger zuversichtlich als noch vor einer Minute, da sie ihn in Stein
verwandeln
wollte, saugt sie an der Kuppe ihres Fingers. Denkt nach. Wie soll sie
ihn halten? Wie ihn hindern, sich zu entfernen? Ihm den
Blütenzweig
in das ungekämmte Haar stecken, oder hinter das Ohr, wie einen
Federkiel
— ihn schmücken, damit er stillhält? Ihm den
Blütenzweig
zwischen die Lippen schieben und auf diese Weise am Sprechen hindern?
Unmöglich.
Wer weiß, ob die dicht an dicht sitzenden Blüten nicht
giftig
sind. Eos kaut an ihrer Fingerkuppe. Es bleibt ihr wenig Zeit. Mit
ihrer
List ist sie am Ende. Jetzt muß ein Einfall her. Aber woher? In
Hörweite
schwirren Ideen. Mit hoher Geschwindigkeit. Umarm ihn, umfang ihn,
küss
ihn, fessel ihn, nicht mit Zweigen — mit Worten wie Stricken, mit
Blicken
wie Ketten. Ein Schwarm rasender Ideen. Schon vorüber. Keine
greifbar.
Keine sichtbar. Und alles Naheliegende ist unmöglich.
Unmöglich,
dicht vor ihn zu treten. Unmöglich, gleich hier wenigstens von
seinem
Duft zu kosten. Unmöglich, sich, während sie ihn dekoriert,
ein
wenig zu recken. Sich an ihm, der fast einen Kopf größer ist
als sie, emporzuranken. Er würde nicht stillhalten. Er würde
erschrecken, zurückweichen, die Flucht ergreifen.
Eos läßt ihren Forsythienzweig sinken.
»Würden Sie mir denn helfen, den Teppich
hinaufzutragen?«
fragt sie, und Anrath antwortet:
»Gern.«
Aber gern muß nichts bedeuten. Gern
würde er auch sagen, wenn er nichts weiter als behilflich sein
will.
»Es gibt einen Aufzug«, sagt Eos und geht
voran.
"Eos´s Gelüst" - wie es wurde, was es ist. Werkstattbericht