Herr Kaiser, Sie sind nicht nur Autor, sondern waren zunächst und sind immer noch Übersetzer, vor allem englischer Literatur. Vor dem eigenen Schreiben stand also zuerst das intensive Lesen und das an eine Vorlage gebundene Schreiben. Inwiefern hat das Übersetzen Ihr eigenes Schreiben beeinflußt?
Für mich war Übersetzen immer ein Zweig der Schriftstellerei, also Kunstübung und nicht bloßer Hilfsdienst. »Kunst-Übung« auch insofern, als das Übersetzen eine Schule für das Feilen an Sätzen und das Drechseln von Formulierungen ist, ein Gelände, auf dem man sich selbst immer wieder mit der Entdeckung überraschen kann, wieviele verschiedene Formulierungen für einen Satz oder einen Absatz oder einen Dialog sich entfalten lassen (obwohl doch das Original nur eines ist), wenn man nur lange genug bohrt und spielt, dreht und wendet. Soweit ich sehe, beeinflußt meine Arbeit als Übersetzer mein Schreiben vor allem durch solche Erfahrungen im Umgang mit Sätzen und Absätzen und nicht etwa dadurch, daß der Stil etwelcher von mir übersetzter Bücher nun auf Dauer prägend würde.
Im »Kalten Sommer des Doktor Polidori« sind wesentliche Rollen mit englischen Autoren besetzt. Was bedeuten für Sie Autoren, Gestalten und Traditionslinien der englischen Literatur?
Als ich anfing zu übersetzen, wollte ich aus dem Französischen übersetzen und habe das gelegentlich auch getan. Meine Französischkenntnisse waren besser als meine Englischkenntnisse. Anglistik habe ich nie studiert, Romanistik immerhin vier Semester. Zum Englischübersetzer bin ich geworden, weil mir mehr englische und amerikanische Bücher zur Übertragung angeboten wurden. Und getraut habe ich mich, diese Aufträge anzunehmen, weil meine Arbeitshypothese bei der Operation Übersetzen immer die war, daß der Übersetzer vor allem mit seiner eigenen Sprache Umgang zu pflegen verstehen muß. An die englische Literatur bin ich auf diesem Wege, durchs Übersetzen, geraten, natürlich auch als neugieriger Leser. Aber so bin ich natürlich auch an andere »fremde« Literaturen geraten, vor allem an die französische. Die historisch überlieferte Episode jener Reise des John William Polidori zusammen mit Lord Byron im kalten Sommer des Jahres 1816 hat sich, nachdem ich sie eher zufällig gefunden habe, als eine jener Geschichten erwiesen, die einen nicht mehr loslassen - oder erst dann, wenn man etwas aus ihnen gemacht hat. In letzter Zeit grabe ich in der Umgebung eines gewissen Monsieur Denon, Literat und Kupferstecher, Sammler, Kunsträuber, Museumsdirektor, ein diskreter Freund der Frauen - auch eine von jenen Geschichten... Sie spielt nun allerdings in Frankreich.
Da Sie in Ihren Texten teilweise einer heiter-ironischen Schreibweise verpflichtet sind, liegt der möglicherweise etwas naive Gedanke nahe, daß Sie der »britische Humor« beeinflußt hat. Können Sie dazu Stellung nehmen?
»Einfluß« ist eben eine höchst problematische, oft auch irreführende Kategorie. Was liegt näher als die Annahme, daß ein Englischübersetzer, der vielleicht mit einem gewissen Erfolg die sehr komischen Bücher von Nancy Mitford ins Deutsche transportiert hat und bisweilen auch selbst etwas Gewitztes zu Papier bringt, nun also offenbar vom britischen Humor »beeinflußt« sei? In Wirklichkeit liegen die Dinge vermutlich ganz anders. Wenn es mir gelungen sein sollte, einige gewitzte Bücher zu übersetzen und einige gewitzte Kapitel zu schreiben, dann doch wohl eher deshalb, weil ich von irgendwoher einen Sinn für Komik, auch Spaß am Gewitzten und vor allem ein Interesse dafür, wie Komik funktioniert, »mitbringe«. Mein Vater war und ist ein großer Wortspieler. Da könnte man von »Einfluß« sprechen. Und wenn Sie diesem Sinn für Witz und Ironie unbedingt einen Landstrich zuordnen wollen, dann schlage ich die Gegend vor, aus der ich komme: den linken Niederrhein. Aber selbstverständlich haben weder der Niederrhein noch die britischen Inseln den Humor für sich gepachtet.
Dem Leser Ihrer Bücher fällt eine beeindruckende Vielfalt an Themen und zum Teil an Präsentationsweisen auf. So steht am Anfang eine Abhandlung über den »Zaun am Ende der Welt«; Ihr erster Roman behandelt u.a. englische Autoren, Ihr zweiter Roman bezieht sich auf die antike Göttin Eos, die aber in die Gegenwart versetzt wird. Ein gänzlich anderer Text liegt mit den »Königskindern« vor, eine Geschichte auf der Grundlage eines Briefkorpus, bei der Sie Ihre eigene Rolle als Finder und Herausgeber etwas bescheiden darstellen. Neuland betreten Sie auch mit den »Literarischen Spaziergängen im Internet«. Wie erklärt sich dieses breite und vielseitige Spektrum, das durch Ihre Bücher abgedeckt wird?
Neugier vielleicht. Die Fähigkeit und das Vergnügen, an vielem Interesse zu finden - etwas, das natürlich auch dem Übersetzer zugute kommt. In dem Haus, in dem ich großgeworden bin, gab es ein Maleratelier, in dem mein Vater arbeitete, ein Fotoatelier, in dem meine Mutter arbeitete, ein Fotolabor, in dem Laborantinnen bei rotem Licht Bilder entwickelten, einen Foto- und Radioladen, in dem mein Onkel, meine Mutter und einige Angestellte die Kundschaft zufriedenzustellen versuchten, eine Radiowerkstatt, in der ich dem Techniker über die Schulter sehen konnte. Hinter dem Haus, das mitten in der Stadt an der Hauptgeschäftsstraße lag, erstreckte sich ein großer Garten (an seinem Ende das brettervernagelte »Ende der Welt«, ein Törchen, und ein Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg), und im Nachbarhaus nebenan, wo mein bester Freund wohnte, gab es eine Metzgerei mit Kühlhaus und Wurstküche. Für ein neugieriges Kind eine ziemlich abwechslungsreiche Welt, in der die Kunst dicht ans Handwerk grenzte, und eine Einladung, sich für vieles zu interessieren.
Mir scheint, daß Ihr Schreiben teilweise zwischen »Finden« und »Erfinden« angesiedelt ist; Sie selbst haben sich als »Geschichtenfinder oder -erfinder« (»Literarische Spaziergänge«, S.8) bezeichnet. »Finden« und/oder »Erfinden« - ein Spannungsverhältnis, eine Ergänzung?
Auch der Übersetzer
ist ja einer,
dem es nützt, wenn er sich aufs Suchen und Finden versteht. Ein
großer
Reiz des Übersetzens liegt für mich darin, daß der
Übersetzer
ein Faktenkriminalist sein muß: sonderbare Zusammenhänge
klären,
entlegene Tatsachen, verschollene Begriffe und Wörter
aufspüren...
Aber Sie haben
wohl
recht: Suchen, Finden, Recherchieren in dieser oder jener Spielart -
das
scheint tatsächlich ein verbindendes Element meiner Bücher zu
sein. Und das »Erfinden« kommt in den beiden Romanen als
spielerischer
Umgang mit dem Gefundenen hinzu. Allerdings sind es, wenn man genau
hinsieht,
ziemlich unterschiedliche Finde- oder Such- oder Rechercheverfahren,
die
ich da jeweils angewendet habe - und zum Vorschein kommen dabei auch
ziemlich
unterschiedliche Arten von Funden. An den Zitaten und Belegstellen
für
das Weltende-Buch habe ich ungefähr zehn Jahre gesammelt: nach dem
Motiv des brettervernagelten Weltendes ließ sich ja kaum
systematisch
suchen. In Schlagwortregistern finden Sie unter »Weltende«
allenfalls Hinweise auf das zeitliche Ende der Welt, aber kaum jemals
auf
das räumliche, das es ja bekanntlich auch nicht gibt.
Zufallsfunde,
glückliche Funde waren also nötig. Damit kommt
Unberechenbarkeit
ins Spiel, wenngleich man es gelegentlich auch schafft, den
Zufällen
Fallen zu stellen, in denen sich dann Unverhofftes fängt.
Beim
Polidori-Roman
lief der ursprüngliche Plan auf eine Collage aus
überliefertem
Textmaterial hinaus. Da habe ich viel gelesen, Texte und Bildmaterial
gesammelt.
Ich habe einige der Schauplätze in Augenschein genommen: Ostende,
die Goldene Kammer in St. Ursula zu Köln, das Denkmal des Generals
Hoche in Weißenturm am Rhein, den Mainzer Dom, den Genfer See und
die Villa Diodati bei Genf. Als ich dann beschloß, mir bei diesem
Stoff Freiheiten herauszunehmen, Dinge in die Handlung einzuschmuggeln,
die von keinem der Beteiligten so überliefert sind, war das
recherchierte
Material für mich nicht wertlos, sondern immer wieder Gerüst
und Quelle der Anregung und Inspiration.
Vom Suchen und
Finden
leben (und handeln) natürlich auch die »Literarischen
Spaziergänge
im Internet«: Ich habe mich in den Datendschungel hinein- oder
auf
den Datenozean hinausgewagt, um herauszufinden, ob da für Leser,
Übersetzer,
Leute, die mit Büchern gern umgehn, mehr ist als
Informationsmüll
und Wüste, und was ich gefunden habe, das habe ich notiert.
In den
»Königskindern«
ist von einer gefundenen Liebe die Rede - und von den Abenteuern dieses
Findens.
Ihr erster Roman »Der kalte Sommer des Doktor Polidori« behandelt mit Shelley und Lord Byron zwei Größen der englischen Literatur. Der Fokus wird jedoch auf Doktor Polidori gesetzt, eine gleichfalls authentische Gestalt, welche Lord Byron auf seiner Reise nach Genf begleitet. Der Text versteht sich jedoch weniger als nacherzählende Aufbereitung verifizierbarer Begebenheiten, sondern dient zum einen der ironischen Demontage der hohen, genialen Figuren. Zum anderen handelt es sich bei Polidori auch insofern um einen komischen Helden, als er in einer mit literarischen Traditionen behafteten Herr-Diener-Konstellation angesiedelt ist, aber auch von ihr abweicht. Welche Intentionen verbinden sich mit Ihrem Roman im allgemeinen und der Hauptgestalt des Doktor Polidori im besonderen?
Was heißt hier Intention? Ich habe diese Geschichte doch nicht erzählt, weil ich mit ihr oder ihrem Helden irgendwelche hinter der Geschichte liegenden Absichten oder Botschaften vermitteln wollte, sondern weil mich diese Geschichte gefesselt hat, und zwar so sehr, daß ich das Gefühl hatte, ich könnte mit ihr auch andere Leute fesseln. Die Geschichte war meine Intention.
Im »Kalten Sommer des Doktor Polidori« wird des öfteren ein Konkurrenzverhältnis zwischen Literatur und Leben, zwischen Schreiben und Handeln vorgeführt. So kontrastiert die Vorliebe des Titelhelden für erotische Schriften mit Defiziten im dargestellten Leben; zu einem bescheidenen erotischen Erfolg im Leben des Protagonisten kommt es bezeichnenderweise, als er das von ihm hartnäckig verfolgte Tragödienprojekt buchstäblich hat fallenlassen. Die untergeordnete Stellung Polidoris wird auch dadurch deutlich, daß er beauftragt wird, die Erlebnisse Lord Byrons während der Reise in einem Tagebuch festzuhalten, gelebtes Leben also in Literatur umzusetzen. All dies sind Aspekte im »Doktor Polidori«, die auf eine Dichotomisierung von Literatur und Leben hinauslaufen. Wie sieht der Autor des »Doktor Polidon« die Beziehung zwischen Literatur und Leben im genannten Text und im allgemeinen?
Im genannten Text sehe ich diese Beziehung wohl so, wie ich sie dort beschrieben habe. Und zu der Frage, wie ich die Beziehung zwischen Literatur und Leben im allgemeinen sehe, fällt mir im Augenblick nichts Bedeutendes ein.
Von seiten der Kritik wurde Ihren Büchern mehrmals der Vorzug gediegener und geistreicher Unterhaltung zugeschrieben. Diese Einschätzung trifft einerseits zu, andererseits greift sie zu kurz und verkennt Sinndimensionen Ihrer Texte. Wie sehen Sie selbst die Rezeption Ihrer Bücher, und wie sehen Sie vor allem das Verhältnis von »Botschaft« und ihrer »unterhaltsamen« Darbietung?
Ich habe auf der Festplatte meines Computers eine kleine Datei mit dem Dateinamen CREDO.DOC, die ich gelegentlich um ein, zwei Sätze, die mir bedenkenswert oder andachtswürdig erscheinen, ergänze. Ein Satz daraus lautet: »Ernst gibt sich nicht als Botschaft zu erkennen, sondern verbirgt sich in der gründlichen Ausführung des Textes.« Und was die »Unterhaltsamkeit« angeht - ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn man meine Bücher unterhaltsam nennt. Als der Literaturkritiker Werner Fuld 1993 in Klagenfurt sein abfälliges Urteil über die ersten 30 Seiten von »Eos` Gelüst«, die ich gerade zum besten gegeben hatte, in die Worte kleidete, so etwas läse er in der Badewanne oder in der Eisenbahn, das sei »Wartezimmerprosa«, da hat mir selbst das noch gut gefallen, zumal in Klagenfurt.
Während es in Ihren Romanen zu einer literarischen Adaption vorgegebener Gestalten aus Literaturgeschichte und Mythologie kommt, hat sich in den »Königskindern« eine Vorlage der romanesken Bearbeitung entzogen. Die Briefe wären durch »literarische Erfindungen« (S.11O) nur entstellt oder beschädigt worden, wie Sie abschließend feststellen. Diese Zurückhaltung, die wohl auch durch Diskretion gegenüber den betroffenen Menschen bedingt ist, wird jedoch durch die Publikation gewissermaßen aufgehoben. Welche Absicht verbindet sich mit der Herausgabe der Briefe?
Schon wieder »Absicht« - und wieder die gleiche Antwort: Gefesseltsein mündet in die Absicht, fesseln zu wollen.
Lassen Sie mich noch folgenden Aspekt ansprechen: den Fund der Briefe und die sich anschließenden Nachforschungen und Ergänzungen haben Sie in den »Königskindern« genau dokumentiert. Ich habe den Eindruck, daß damit ein Gegengewicht zur Liebesgeschichte der »Königskinder« geschaffen wird, einer Geschichte, die gerade durch Verlust und Trennung geprägt ist. Hat dieser Aspekt eine Rolle gespielt?
Die Finde- und Recherchiergeschichte, die die Liebesgeschichte in eine Art Rahmen faßt, schlägt, so scheint mir, vor allem die Brücke über sechzig Jahre in die Gegenwart. Und dann ist diese Geschichte selbst so merkwürdig und übrigens auch so »unerfindbar«, daß ich sie einfach mitteilen wollte. Und recht betrachtet, wäre die Liebesgeschichte ohne die Findegeschichte noch mehr Fragment, als sie es ohnehin immer noch ist - trotz aller Nachforschungen.
Daß die aus den Briefen erschließbare Liebesgeschichte aus den dreißiger und vierziger Jahren negativ endet, negativ enden muß, geht aus dem Wissen von uns Nachgeborenen hervor. Darüber hinaus läßt die Berufung auf das Lied »Es waren zwei Königskinder« die sich auch im Titel niederschlägt einen günstigen Ausgang nicht erwarten. Verstärkt wird diese Erwartung noch dadurch, daß der Briefschreiber Kaufmann in naiver Hoffnung seiner Geliebten vorschlägt, beim schwedischen König (!) zu intervenieren. Wenn sich für Kaufmann eine trügerische Lebensperspektive im litauischen Kaunas ergibt, so wird die Skepsis des Lesers dadurch gesteuert, daß es an diesem Ort zu einem Pogrom gekommen ist, der durch Johannes Bobrowskis Gedicht »Kaunas 1941« bleibend im Gedächtnis verankert ist. Trotz der Faktizität des Dargestellten sind es jeweils literarische Referenzen, die den erzählten Vorgang und sein negatives Ende vorwegnehmen. Können Sie zu diesem Zusammenhang Stellung beziehen?
Mag sein, daß die literarischen Referenzen das traurige Ende dieser Liebe vorausahnen lassen. Der Titel des Buches weist ganz sicher in diese Richtung. Das Gedicht von Bobrowski kenne ich nicht. Aber vor allem, so scheint mir, zieht eine sehr dunkle Wolke über dieser Geschichte auf, sobald mitgeteilt ist, was auch ich, als ich die ersten Briefe in die Hände bekam, zunächst nicht geahnt habe: daß Rudolf Kaufmann, obwohl evangelischen Bekenntnisses, für die Nazis ein Jude war.
Abschließend noch eine hypothetische Frage: Gibt es auch mittel- oder langfristig Projekte, die in ein neues Buch einmünden könnten?
Im Herbst 1997 ist ein kleines Triptychon erschienen, das ich dem vorhin schon erwähnten Vivant Denon gewidmet habe: seine Erzählung »Nur diese Nacht« und ein Feuilleton von Anatole France über den »Baron Denon«, beide von mir neu übersetzt, dazu ein Text von mir, über die sonderbare Veröffentlichungsgeschichte von Denons Erzählung, die zugleich eine Verhüllungs- und Verzerrungsgeschichte ist - und obendrein ein Stück literaturhistorischer Kriminalistik. Vivant Denon ist mir zum erstenmal bei der Arbeit an meinem Polidori-Roman begegnet (in der Szene, wo Polidori in der Buchhandlung in Ostende seine Sammlung lizenziöser Schriften um das eine oder andere Stück ergänzen will). Seitdem habe ich ihn nicht mehr aus dem Auge gelassen. Das Denon-Triptychon wird sich vielleicht mal als Vorstudie zu einer größeren Arbeit erweisen - zu einem Roman vielleicht, der »Denons Glück« heißen könnte, vielleicht auch »Constance«. Vielleicht auch anders.
Herr Kaiser, ich danke Ihnen für das Gespräch.