Der Zaun am Ende der Welt155 Seiten, gebunden, 25 Abbildungen.Zuerst erschienen in der FrankfurterVerlagsanstalt, 1989. Abschließenderweiterte JahrtausEndausgabe 1999. Vergriffen
Inhalt
Einleitung: Die Schrift an der Wand - TeotwawkiDer Zaun am Ende der Welt
Das TörchenMit Büchmann unterwegsVor der ParadiesmauerDas PalisadenparadoxEiskalte LügenDuell am Kap KomfortFlüchtige GästeVirginia und VenusbergNach BielefeldAnhang: Erste Quellen, letzte Enden / Eine völlig unwahrscheinliche Geschichte
Das TörchenEinleuchtend erschien mir die Vorstellung schon immer, daß die Welt am Ende mit Brettern vernagelt sei. Ein alter Gärtner, der einmal in der Woche in unserem Garten nach dem rechten sah, hat mir zum erstenmal davon erzählt. Er hieß Wachtmann, und ich muß damals fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Jedenfalls war mir die ganze Sache, wie gesagt, völlig plausibel. Am Ende dieses Gartens nämlich, der ringsum von hohen Ziegelmauern eingefaßt war, gab es einen Durchlaß, den eine aus rohen Brettern zusammengezimmerte, verwitterte graue Holztür versperrte: das »Törchen« Der Schlüssel zu diesem Törchen war - jedenfalls für mich - nicht auffindbar. Und wahrscheinlich hätte ich ihn in dem rostigen Türschloß auch gar nicht drehen können. So wie dieses Törchen stellte ich mir den Bretterzaun am Ende der Welt vor. Viel später, als Törchen und Ziegelmauer längst verschwunden waren und der Garten aus vier Autogaragen mit einem Wendeplatz bestand, machte ich mich auf die Suche nach den Ursprüngen des Bildes vom brettervernagelten Ende der Welt. Gern hätte ich den alten Herrn Wachtmann nach all den Einzelheiten gefragt, die ich mir als Fünfjähriger entweder nicht gemerkt oder die ich inzwischen wieder vergessen hatte. Und gewiß hätte er mir alle erwünschten Auskünfte gegeben - aber er war längst tot und hatte sein Wissen mit ins Paradies der Gärtner genommen.
So war ich auf die eigene Findigkeit angewiesen, auf die Literatur, auf das Wissen und die Einfälle von Freundinnen und Freunden und auf den Zufall, der mir oft wichtige Hinweise zuspielte. Aber nie bin ich auf eine Quelle gestoßen - keine kluge Abhandlung und keine kundige Person -, die sich über dieses Thema mit so viel Erfahrung und Sachverstand verbreitet hätte, wie es einst Herr Wachtmann tat.
Mit Büchmann unterwegs Jeder weiß, daß die Welt an ihrem Ende mit Brettern vernagelt ist. Und jeder weiß auch, daß dies nicht stimmt. Denn erstens gibt es auf unserem Erdball kein Ende und zweitens an diesem Ende keinen Zaun. Dennoch erfreut sich dieser doppelte Verstoß gegen die Wahrscheinlichkeit großer Beliebtheit. Die Behauptung, am Ende der Welt sei ein Zaun errichtet, ist einer unserer Lieblingsirrtümer, eine jener exemplarischen Unwahrheiten, die nur wegen ihrer Lügenhaftigkeit vorgebracht werden oder um die Leichtgläubigkeit der Kinder auf die Probe zu stellen. Auch führen die Erwachsenen den Zaun am Ende der Welt manchmal zum Beweis dessen an, daß alles seine Grenzen habe. Sie glauben, hier leiste ihnen diese Barriere wider den Vorwitz gute Dienste. Von den gefährlichsten Abgründen, den schlimmsten Wildnissen und den schönsten Verheißungen soll der Bretterverschlag die neugierigen Kinder fernhalten. Doch er lockt sie nur an die Astlöcher und Ritzen, einen Blick auf die Wunder und die Schrecken dahinter zu ergattern.
Aber woher stammt dieser Zaun? Wer hat ihn errichtet? Wer hat ihn als erster erwähnt? Der Volksmund etwa, der uns, halb geöffnet, zwischen gelblichen, alten Zähnen ein schwer verständliches Sprichwort zuflüstert? Handelt es sich denn um eine anonyme Redensart, ohne Autor und Urheber, die aus dem Dunkel irgendwelcher fernen oder weniger fernen Zeiten auf uns gekommen ist? Oder läßt sich die Herkunft des Wortes bis zu einem Werk, einer Schrift, einem Text verfolgen, wo es zum erstenmal auftaucht oder nachweisbar ist? Läßt sich gar ein Urheber und Verfasser namhaft machen, der es geprägt hat? ...Herr Wartmann, um 1955, auf seinen Spaten gestützt. Zurück zu den versammelten Werken
(c) Reinhard Kaiser 1989-2012