:::::::  Reinhard Kaisers Elektroarchiv  :::::::::::::::::::::

 
Einige Passagen aus Rétifs »Nächten von Paris«
 
Die Schwermütige (2. Nacht) 
 
... Ich kam also aus der Rue de Saintonge zurück und befand mich plötzlich ... in der Rue Payenne. Ein neu erbautes Haus warf das Mondlicht lebhaft zurück. Ich blicke nach oben und sehe vor einem Fenster eine noch schöne Frau auf einer gekachelten Bank sitzen, Kopf und Arme über die Brüstung des Balkons vorgestreckt. Ich bleibe stehen. Tiefe, dumpfe Seufzer dringen an mein Ohr. Meine Phantasie ist noch im Aufruhr. Eben erst hatte ich Victoire beweint. Ich hebe die Stimme, aber sanft und voller Rührung: »Ach, Sie, die Sie in der Stille der Nacht seufzen, die doch zum Ausruhen bestimmt ist - was ist mit Ihnen? Kein Zweifel, Sie sind unglücklich. Ich bin es auch. Allein schweife ich umher, seit ich die geliebte Gefährtin verlor, die Amor mir geschenkt hatte...« Dann schwieg ich.

Die Unglückliche hob den Kopf. Sie zog die Arme zurück und sagte, sich nun auf die Brüstung stützend, mit leiser Stimme: »Wer sind Sie?«

»Ein Nachtmensch.«

»Was ist denn das, ein Nachtmensch?«

»Ich werde es Ihnen erläutern, wenn Sie lesen wollen!«

»Lesen? Das ist mir absolut zuwider!«

»Aber Sie werden etwas über den Nachtmenschen lesen!«

»Das ist doch bloß ein Märchen! Ich möchte wissen, wer Sie sind!« ...

 

 

Närrisches Unwesen (33. Nacht)
 
Am Montagabend wollte ich mir das närrische Treiben während der Karnevalstage in Paris noch einmal ansehen. Bei einem Spaziergang tagsüber hatte mich das Ausmaß an Unordnung sehr empört. Kinder und Savoyarden, die an den Straßenecken herumstanden, machten sich einen Spaß daraus, den Frauen die Kleider mit Fett zu beschmieren! Es verschlägt einem die Sprache, wenn man sogar in Frankreichs Hauptstadt mit ansehen muss, wie das schöne Geschlecht beleidigt und mit Schmutz beworfen wird. Das alles ist abscheulich, denn es hat schlimme Folgen für die allgemeine Gesittung. In allen Ländern, wo die Frauen in der Öffentlichkeit nicht als etwas Heiliges verehrt werden - und zwar noch mehr als die Priester -, gibt es keinen Anstand... Dies ging mir auf meinem Weg durch den Kopf, als ich an der Ecke der Rue du Petit Pont sehe, wie ein Knabe von fünfzehn Jahren das Kleid einer jungen Frau besudelt! Ihr Mann oder ein anderer Verwandter, vielleicht auch ein Fremder, geht hinter ihr. Mit einem stacheligen Stecken versetzt er dem Jungen ein Schlag auf den Kopf, der ihn umwirft. Ich laufe zu ihm. Der Junge regt sich nicht, die Schläfe ist aufgerissen. Ich rufe nach Hilfe. Man trägt ihn zum Krankenhaus. Er war tot - jede Hilfe kam zu spät. Die Bestrafung war allzu streng gewesen. Aber muss sich nicht die Polizeibehörde selbst diesen Unfall und hundert andere vor ihm und nach ihm vorwerfen?

Ich berichtete der Marquise von dem beklemmenden Vorfall, und sie war tief getroffen. Dann nahm ich meinen Vortrag über die Physik im alten Ägypten wieder auf.

 
Zwischenfall auf einem Schleppkahn (359. Nacht)
 
Als wir zur Porte Saint-Bernard gelangten, wo neuerdings die Schleppkähne ankommen und abgehen, überraschte uns der Anblick einer großen Menschenmenge. Man erwartete die Ankunft eines Bootes, und diejenigen, die Verwandte oder Freunde unter den Passagieren hatten, waren in heller Aufregung. Zu Recht, wie sich leider herausstellte! Ein Mann, der mit der Postkutsche gekommen war, hatte berichtet, in Auxerre sei ein Algerier an Bord gegangen, den zwei leichtfertige Soldaten und einige andere Unbesonnene mit allerlei Beleidigungen gereizt hätten. Anfangs habe der Mann das über sich ergehen lassen, doch als dann gegen Abend auch spöttische Bemerkungen über Mohammed laut wurden, habe dieser unselige Fanatiker, der sich von den anderen Reisenden sonst nicht weiter unterschied, beschlossen, Rache zu nehmen und als Märtyrer zu sterben. Er wartete einen günstigen Augenblick ab, löschte das einzige Licht in der großen Kajüte und schlug dann blindlings mit der Axt des Steuermanns um sich, in dem Glauben, da er niemanden gezielt angriffe, mache er sich auch nicht des Mordes schuldig. Er verschonte nur die Ammen - ein Beweis dafür, dass er nicht verrückt war, wie es der wortgewandte Pächter des Bootes in einem ungeschickten Brief behauptet hat, der im Journal de Paris abgedruckt wurde. Die zu Hilfe gerufene Gendarmerie konnte dem Mann nur mit Pistolenschüssen Einhalt gebieten, von denen einer ihm den Kiefer zertrümmerte. An diesem Schuss ist er in Sens in der Champagne gestorben.
Wir wussten, wie schlecht die Schleppkähne in Ordnung gehalten werden. Wir hatten dort selbst schon schlimme Dinge erlebt, unter anderem wie ein armes Mädchen von einigen ungezogenen, jungen Leuten aus Joigny geteert worden war, nicht am ganzen Körper, sondern abscheulicherweise nur an dem, wodurch es sich von uns unterschied... Deshalb erstaunte uns diese neue Katastrophe nicht allzu sehr - nicht in einer Zeit, in der die Frechheit der Jugend ein unerträgliches Ausmaß angenommen hat und so weit geht, dass man bald nicht mehr ins Theater und vielleicht nicht mal mehr auf die Straße gehen kann, ohne angepöbelt zu werden! Ich habe dieses Unheil jedenfalls schon vorausgesagt, als ich sah, wie man den Emile von Jean-Jacques missverstanden hat.* Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es so bald so weit kommen würde.
 
 
Ich war spät aufgestanden, nachdem ich die Tableaux de la Vie - Bilder aus dem Leben* beendet und auf den Weg nach Neuwied gebracht hatte. Gegen halb vier verlasse ich mit noch immer schwerem Kopf das Haus und wanke wie ein Betrunkener über den Pont Notre-Dame. Das blendende Licht unter dem wolkenlosen Himmel machte mich mit der Zeit immer wacher. Ich atmete frei, als ich vor mir eine wildbewegte Menschenmenge erblickte. Überrascht war ich nicht. Ich nähere mich, und ... O, was für ein schauerlicher Anblick! Zwei Köpfe - auf Piken gespießt!
Erschrocken frage ich... - »Das sind«, sagt mir ein Metzger, »die Köpfe von Flesselles und de Launay.«*
Bei diesen Worten packt mich ein Grausen! Ich sehe, wie sich eine Wolke von Unheil über der unglücklichen Hauptstadt der Franzosen zusammenbraut. Dabei hatte man mir zum Teil die Unwahrheit gesagt. Der Kopf von Flesselles, von dem Pistolenschuss entstellt, der ihm das Leben nahm, trieb nämlich schon auf den Wellen der Seine. Es waren de Launay und sein Major, die ich hier misshandelt sah!
Ich gehe weiter. Aus tausend Kehlen formt sich die Stimme des Gerüchts: Die Bastille ist erobert... - Ich glaube das nicht, sondern gehe weiter, um mir die Belagerung anzusehen. Mitten auf der Place de Grève finde ich in der Gosse einen Körper ohne Kopf, den fünf oder sechs gefühllose Burschen umringen. Ich frage nach... Es ist der Gouverneur der Bastille.
(...)
Ich hatte mir den Beginn der Belagerung der Bastille ansehen wollen. Aber es war schon alles vorüber. Die Festung war genommen. Wie von Sinnen warfen ein paar Kerle von den Türmen Papiere in die Gräben - Papiere, die für die Geschichte von großem Wert hätten sein können. Ein Geist der Zerstörung hing über der Stadt. Ich sehe sie, die gefürchtete Bastille, auf die ich drei Jahre zuvor, als ich jeden Abend durch die Rue Neuve Saint-Gilles ging, keinen Blick zu werfen wagte - ich sah sie untergehen, zusammen mit ihrem letzten Gouverneur!
(...)
Während des übrigen Abends lief ich umher. An der Place Dauphine hörte ich den Trommler. Ein vornehm gekleideter Herr ließ dort öffentlich verlauten, beim Palais du Luxembourg gebe es unterirdische Gänge, die bis zur Ebene von Montrouge führten. Ich blieb ruhig. Ich spürte, dies war ein falscher Alarm, den man nicht erfunden hätte, wenn Anlass zu einem wirklichen bestanden hätte.
Ich ging zum Palais Royal. Alle Läden dort waren geschlossen. Es schien, als hätten die Köpfe - wie das Haupt der Medusa - alles dort erstarren lassen. Die Gruppen debattierender Menschen befassten sich nicht mehr, wie in den Tagen zuvor, mit Anträgen - alle sprachen nur noch von Umbringen, Erhängen und Enthaupten. Mir standen die Haare zu Berge.